Braunschweig. Das Statistische Bundesamt meldet für Niedersachsen eine Verdopplung der Unfallzahlen. Ein Forscher warnt dennoch vor voreiligen Schlüssen.

Das Statistische Bundesamt hat für das Jahr 2021 erste Zahlen zur Verkehrssicherheit geliefert. Bemerkenswert ist die Zunahme an Unfällen, in die Elektrokleinstfahrzeuge, die sogenannten
E-Scooter
, verwickelt waren. Der NDR nennt für Niedersachsen zwischen Januar und Oktober des Jahres 2021 fast 400 Unfälle. Das entspreche bereits in diesem Zeitraum fast einer Verdopplung der Zahlen im Vergleich zum Vorjahr. Auch die Zahl der schwerverletzten Personen habe sich mit 60 verdreifacht, heißt es in dem Bericht weiter.

Noch keine Zahlen für die Region Braunschweig-Wolfsburg

Fahrrad- und E-Scooter-Unfälle des Jahres 2020 gegenüber gestellt.
Fahrrad- und E-Scooter-Unfälle des Jahres 2020 gegenüber gestellt. © Jürgen Runo | Jürgen Runo

Deutschlandweit registrierte die Polizei in diesem Zeitraum fast 4600 Unfälle mit E-Scootern, vier Personen starben. Im Vergleich dazu: die Zahl der getöteten Fahrradfahrer liegt bei 325, mehr als 72.000 Unfälle mit Personenschaden führt das Statistische Bundesamt hier auf.

Die Polizeidirektion (PD) Braunschweig konnte unserer Zeitung noch keine regionalen Daten zur Verfügung stellen. Da sich der Markt für E-Scooter in dieser Region erst ab Mitte 2020 geöffnet habe, sei der Vergleich mit Unfallstatistiken des Jahres 2021 nur „bedingt möglich“, erklärte ein Polizeisprecher. Die Verkehrsunfallstatistik des Jahres 2021 hingegen würde noch erstellt und erst im April vorgestellt, teilte die PD mit.

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Unfallforscher warnt vor Alarmismus

Mehr Unfälle, mehr Verletzte. Muss uns diese Entwicklung fürchten? Siegfried Brockmann, Leiter Unfallforschung der Versicherer (UDV), warnt im Gespräch mit unserer Zeitung davor, ein Schreckensszenario an die Wand zu malen. Ein solches würden die Zahlen des Statistischen Bundesamtes nicht eindeutig belegen. „Die ermittelte Zunahme an Unfällen mit E-Scootern findet weiter auf einem niedrigen Niveau statt“, sagt der Forscher. Er hat Recht. So registrierte die Polizei für das Jahr 2020 insgesamt 264.000 Unfälle mit Personenschaden im Straßenverkehr, nur an 0,8 Prozent war ein E-Scooter-Fahrer oder eine E-Scooter-Fahrerin beteiligt.

Klar sei, so Unfallforscher Brockmann, dass man genau hinschauen müsse. Es sei kritisch, wenn sich Zahlen verdoppeln und verdreifachen würden. „Wir müssen aber zunächst klären, ob sich der Trend verfestigt, denn die Corona-Pandemie mit den zwei harten Lockdowns hat 2020 viele Mobilitäts -und Unfallstatistiken verfälscht.“

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Das träfe insbesondere auf die Nutzung der E-Roller zu, die nach der Zulassung zum Straßenverkehr im Juni 2019 mit dem Pandemiebeginn wenige Monate später sofort ausgebremst worden wäre.

Anbieter mauern bei Nutzungsdaten

Schwierig gestaltet sich für Experten wie Brockmann die Analyse, auch weil Daten fehlen würden. „Das E-Scooter-Geschäft ist in Deutschland hauptsächlich ein Vermiet-Modell. Die Anbieter rücken aber nicht mit der Fahrleistung heraus. Wir wissen nicht, wie viele Fahrten am Tag gemacht werden und wie viele Kilometer zurückgelegt werden. So können wir die Unfälle auch nicht ins Verhältnis setzen. Hier ist die Datenlage bei anderen Verkehrsteilnehmern viel eindeutiger.“ Warum es keine Zahlen gibt? Brockmann spekuliert: „Ich schätze, dass es da um Firmeninteressen geht, die man nicht der Konkurrenz offenbaren will.“

Siegfried Brockmann ist Leiter der Unfallforschung der Versicherer (UDV). Er mahnt, die Steigerung der E-Scooter-Unfälle zweieinhalb Jahre nach der Zulassung nicht zu dramatisieren. Sie fänden noch auf „sehr niedrigem Niveau“ statt.
Siegfried Brockmann ist Leiter der Unfallforschung der Versicherer (UDV). Er mahnt, die Steigerung der E-Scooter-Unfälle zweieinhalb Jahre nach der Zulassung nicht zu dramatisieren. Sie fänden noch auf „sehr niedrigem Niveau“ statt. © dpa-tmn

Nachgefragt beim Anbieter „Lime“, der als einer der erster in unserer Region E-Roller auf die Straße brachte, bestätigt sich die Reserviertheit, die Brockmann anspricht. Man veröffentliche keine konkreten Zahlen zum Fahraufkommen, weder bundesweite noch regionale Zahlen, heißt es von Unternehmensseiten. Die gestiegenen Zahl an Unfällen wird allgemein mit einem „gleichzeitig stark gestiegenen Mobilitätsaufkommen“ erklärt. Auch der Konkurrent Bolt, ein estnisches Unternehmen, äußert sich in ähnlicher Weise. Die Firma Tier spricht von etwa 60 Millionen gefahrenen Kilometern mit E-Scootern in Deutschland im Jahr 2020. Das umfasse alle kommerziellen Anbieter, aber auch die „mittlerweile beträchtliche Anzahl privater Besitzer“.

Gefährliche Tandemfahrten – Anbieter: Geplante App soll das verhindern

Die Sicherheit der Kunden habe man permanent im Blick, erklärt „Lime“-Pressesprecher Bodo von Braunmühl. „Wir haben eine Reihe von Maßnahmen, um unsere Kundinnen und Kunden über die App für sicheres Fahren zu sensibilisieren. Dazu gehört nicht nur der richtige Umgang mit dem Scooter selbst, sondern auch Mahnungen zum Fahren ohne Alkohol, die wir insbesondere abends/nachts und am Wochenende ausspielen, oder die Aufforderung, einen Helm zu tragen“, schreibt er. Tim Ricketts, Kommunikationsberater der Firma Bolt in Deutschland, erwähnt in dem Zusammenhang auch Tandemfahrten. Man sei sich des Problems bewusst, das durch die Mitnahme weiterer Personen auf dem Scooter entstünde. „Dies ist eine extrem unsichere Art zu fahren“, so Ricketts. Man teste daher derzeit ein neues App-System, um Tandemfahrten zu verhindern.

Kann es eine Helmpflicht geben?

Die Landesverkehrswacht Niedersachsen hält das Tragen eines Helms für ratsam, will man schweren Kopfverletzungen vorbeugen. „Wünschenswert wäre das“, sagt auch Experte Brockmann, fügt aber an: „Eine Pflicht zum Tragen eines Helmes ist in der Praxis kaum umsetzbar.“ E-Scooter und Rad bildeten unter den Verkehrsteilnehmern eine Art Einheit, was Rechte und Pflichten betreffe. Hier müsse das Gleichbehandlungs-Prinzip gelten. „Wer die Helmpflicht will, muss diese auch bei Radfahrern durchsetzen, das ist aber nicht erfolgt“, sagt er. Zudem müssten dann auch die Anbieter verpflichtet werden, Helme anzubieten und es müsste die Möglichkeit geben, die Helme an Stationen abzugeben. Es sei unrealistisch, diese Strukturen in den Städten aufzubauen, und gehe am Wunsch der Kunden vorbei, spontan einen E-Scooter zu leihen, um kurze Strecken zu überwinden. Laut Brockmann würden E-Scooter überwiegend genutzt, um Wege von einem oder maximal 1,5 Kilometern zu überbrücken.

Auch die Unfallstatistik fußt laut Brockmann auf einer unklaren Datenlage. Es herrsche eine hohe Dunkelziffer, das belege eine aktuelle Studie des Universitätsklinikums-Essen. In dieser werde aufgezeigt, das drei Viertel aller Unfälle, die am Ende in der Notaufnahme landen, zuvor gar nicht von der Polizei aufgenommen worden waren.

Nach Angaben des NDR wiesen im Jahr 2021 viele Verletzte nach Unfällen Knochenbrüche an Hand und Sprunggelenk auf. Das Städtische Klinikum in Braunschweig teilte auf Anfrage mit, in der Notaufnahme habe sich die Zahl der Unfälle zwischen 2021 und 2020 nicht signifikant verändert. Man führe aber keine Statistik über die Art der Verletzungsform. Häufig seien Kopf oder Füße der Fahrer und Fahrerinnen betroffen gewesen, erklärt eine Sprecherin. Als häufigste Unfallursache werden in der Essener Studie Stürze über zu hohe Bordsteine angegeben.

Experte: Mehr Platz für E-Scooter

Weniger Unfälle, mehr Sicherheit: Wie kann das gelingen? In ihrer Analyse liegen Anbieter und Unfallforschung nicht weit auseinander. Für beide liegt der Schlüssel in separaten Fahrbahnen für Zweiradfahrer, räumlich getrennt vom Auto- und Lkw-Verkehr. Man arbeite daher mit den Behörden zusammen, um die Infrastruktur in diese Richtung zu entwickeln, erklärt „Lime“-Sprecher von Braunmühl.

Es gibt Gründe, sagt auch Verkehrsexperte Brockmann, warum E-Scooter-Fahrer bei Unfällen wesentlich häufiger als Verursacher in der Statistik auftauchen als Fahrradfahrer. „Im Gegensatz zu Radfahrern kommen E-Scooter-Fahrer viel öfter in den Konflikt mit Personen auf dem Gehweg.“ Hier sei die Schuldfrage eindeutig, denn das Verbot den Gehweg zu nutzen, könne nicht ignoriert werden. „Der Fahrradfahrer nutzt im Zweifel die Straße, der E-Scooter-Fahrer nicht“, so Brockmann.

Neue Studien zeigten, die Angst im innerstädtischen Verkehr von Pkw oder Lkw übersehen zu werden, sei bei Nutzern eines E-Scooters wesentlich höher als bei Radfahrern. Dieser Furcht müsse mit baulichen Maßnahmen begegnet werden. „Wir sind an einem Punkt, an dem Städte massiv in den Ausbau der Radwegestruktur investieren wollen. Sie sollten aber berücksichtigen, dass auch E-Scooter Platz brauchen, wenn sie sich laut Straßenverkehrsordnung so verhalten sollen wie Radfahrer. Dann reichen zusätzliche Flächen von einem oder anderthalb Meter aber bei Weitem nicht aus“, sagt Brockmann.

Das gilt für E-Scooter:

Elektrokleinstfahrzeuge, E-Scooter, sind versicherungspflichtige Kraftfahrzeuge. Die Nutzerinnen und Nutzer müssen mindestens 14 Jahre alt sein. So weit vorhanden sind Fahrradwege oder Schutzstreifen zu nutzen. Andernfalls muss auf Fahrbahnen oder Seitenstreifen ausgewichen werden. Die Nutzung der Gehwege ist verboten.