Braunschweig. Der Blindenverband verlangt, die Sicherheit von Blinden und Sehbehinderten zu verbessern. Ein Urteil aus Münster könnte für Änderungen sorgen.

„Bis was passiert!“ Wer so das Braunschweiger E-Scooter-Park-Chaos kommentierte, galt als Schwarzmaler. Doch jetzt ist etwas passiert: Die blinde Dunja Becker ist am Kennedy-Platz über einen falsch geparkten E-Scooter gestürzt. Eine Woche ist sie krankgeschrieben. Noch ist nicht klar, ob sie sich etwas gebrochen hat.

Dunja Becker hatte es fast geschafft. Mit Einkäufen kam sie zurück zu ihrer Wohnung am Kennedy-Platz. Was kurz vor ihrer Haustür geschah, kann sie nicht genau beschreiben. Nur noch auf einem Auge hat die 40-Jährige Sehkraft: „Die beträgt aber nur noch drei Prozent.“ Mit einem Stock tastet sie darum den Fußweg auf Hindernisse ab. „Ich weiß nur noch, dass ich eine Rolle vorwärts machte.“ Ihre Einkäufe verteilten sich beim Sturz über den Fußweg.

Nach Unfall mit E-Scooter in Braunschweig: „Man sollte die Schiet-Dinger verbieten!“

Ein Passant habe ihr aufgeholfen und auch die Einkäufe wieder aufgesammelt. Dunja Becker war über einen falsch geparkten E-Scooter gestürzt. „Zunächst stand ich wohl unter Schock. Die Schmerzen habe ich erst am nächsten Morgen bemerkt.“ Ihre Hausärztin hat Prellungen an Hand und Knie festgestellt. Schmerztabletten wurden ihr verschrieben: „Aber die darf ich nur nehmen, wenn ich die Schmerzen wirklich nicht mehr aushalte.“ Ein Woche ist Dunja Becker krankgeschrieben. „Eine Untersuchung beim Radiologen kommt noch. Es ist nicht klar, ob etwas gebrochen ist.“ Mittlerweile ermittelt die Polizei.

Dunja Becker ist direkt vor ihrer Haustüre am Kennedy-Platz über einen dort abgestellten Elektro-Roller gestürzt.
Dunja Becker ist direkt vor ihrer Haustüre am Kennedy-Platz über einen dort abgestellten Elektro-Roller gestürzt. © Braunschweiger Zeitung | Bernward Comes

Fragt man Dunja Becker, was sie von E-Scootern hält, sagt sie: „Man sollte die Schiet-Dinger verbieten! Ich bin bereits mehrfach über sie gestolpert oder an Lenkern hängengeblieben. Es war nur eine Frage der Zeit. Jetzt hat es mich erwischt.“

Braunschweiger Blindenverband hängt „Gelbe Karten“ an falsch geparkte E-Scooter

Es ist eingetreten, was Aytekin Demirbas befürchtet und zu verhindern gehofft hatte. Der Vorsitzende des Blinden- und Sehbehindertenverbands in Braunschweig bringt, wann immer er E-Scooter als Hindernis ertastet, „Gelbe Karten“ an. „Die Karten gibt es mittlerweile auch in der Landessparkasse am Friedrich-Wilhelm-Platz. Aber das reicht ganz offenbar nicht. Es sollte jetzt in Braunschweig das Urteil des Verwaltungsgerichts Münster umgesetzt werden.“

Demirbas weiß darüber gut Bescheid, weil es der Blinden- und Sehbehindertenverein Westfalen war, der die Stadt Münster verklagt hatte. Der Verein wollte die Untersagung des Geschäftsbetriebes mit E-Tretrollern im Free-Floating-System einklagen. Free-Floating heißt: Das Abstellen wird nicht reglementiert.

Der Verein unterlag zwar. Das Gericht versah das Urteil vom 9. Februar 2022 (es liegt der Redaktion vor) jedoch mit Auflagen für die Stadt Münster. Einer der wesentlichen Punkte: Das Gericht verwies darauf, dass es sich beim Abstellen von Miet-Scootern um eine Sondernutzung handele. Die sei im Landesstraßengesetz geregelt.

Auf der zweiten E-Scooter-Abstellfläche am Hauptbahnhof sind viele Scooter ordnungsgemäß abgestellt. 
Auf der zweiten E-Scooter-Abstellfläche am Hauptbahnhof sind viele Scooter ordnungsgemäß abgestellt.  © JS | Stadt Braunschweig

Der vergleichbare Passus in Niedersachsen lautet: „Wird eine Straße ohne die erforderliche Erlaubnis benutzt oder kommt der Erlaubnisnehmer seinen Verpflichtungen nicht nach, so kann die für die Erteilung der Erlaubnis zuständige Behörde die erforderlichen Maßnahmen zur Beendigung der Benutzung oder zur Erfüllung der Auflagen anordnen. Sind solche Anordnungen nicht oder nur unter unverhältnismäßigem Aufwand möglich oder nicht erfolgversprechend, so kann sie den rechtswidrigen Zustand auf Kosten des Pflichtigen beseitigen oder beseitigen lassen.“

Verwaltungsgericht Münster fordert ein Abwägen von Interessen

In Münster fehlte eine Sondernutzungserlaubnis. Doch erst die ermöglicht ein Abwägen unterschiedlicher Interessen. Selbstverpflichtungen und „Good Will“-Erklärungen seitens der Vermieter seien kein Ersatz. Das Urteil, so Michael Labrenz, Vorsitzender Richter am Verwaltungsgericht Münster, werde nächste Woche rechtskräftig. Bislang liege gegen das Urteil kein Widerspruch vor.

Der wird in Münsters Politik auch nicht erwartet, „sondern eine Verwaltungsvorlage“, so Philip Maurice, Geschäftsführer der Volt-Ratsfraktion dort. Volt bildet mit SPD und Grünen die Mehrheitsfraktionen. In Münster wird von den Vermietern bereits eine Jahresgebühr von 50 Euro je Scooter verlangt. Maurice: „Um die Interessen von Blinden und Sehbehinderten besser zu berücksichtigen, ist eine Erhöhung denkbar, um die Zahl der Scooter zu reduzieren. Oder die Forderung nach technischen Lösungen: Liegt ein Scooter auf der Seite, wird der Vermieter informiert, damit er den Scooter aufstellt.“ Zum Urteil meinte Maurice: „Es war ein Fehler, Regelungen allein der Verwaltung zu überlassen. Denn am Ende fällt es ohnehin der Politik auf die Füße.“

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Eine „Qualitätsvereinbarung“ sorgt für E-Scooter-Regeln

An Braunschweigs Ratsfraktionen will sich nun Aytekin Demirbas wenden. Er gehört auch zum Vorstand des Behinderten-Beirats. Das Ziel von Demirbas: „Die Sicherheit von Blinden und Sehbehinderten wird in Braunschweig nicht ausreichen berücksichtigt. Das muss sich jetzt ändern.“

Welche Hilfe von der Politik kommen kann, ist unklar. Eine Sondernutzungserlaubnis fehlt in Braunschweig zwar auch, die Stadtverwaltung verweist jedoch drauf: „In Hamburg etwa hatte eine Sondernutzungserlaubnis für E-Scooter-Verleiher vor Gericht keinen Bestand.“ Die Regelung in Braunschweig sehe vor: Verleiher nutzen den öffentlichen Raum im Rahmen des Gemeingebrauchs kostenlos.

Eine „Qualitätsvereinbarung“ schaffe Regeln, so die Verwaltung. „Generell gilt: E-Scooter sind so zu parken, dass Verkehrsteilnehmer nicht behindert oder gefährdet werden. Auch einem Umkippen ist vorzubeugen.“ Es gelte auch: „Taktile Leitsysteme für Blinde und sehbehinderte Menschen sind freizuhalten.“

Stadt leitet 33 Verfahren gegen E-Scooter-Falschparker ein

Die Stadtverwaltung verweist zudem darauf: E-Scooter-Vermieter Tier verlange von seinen Kunden ein Foto, welches das ordnungsgemäße Abstellen des Rollers dokumentiert. Auch die Stadt ahnde Fehlverhalten: „Wenn durch rücksichtlos geparkte E-Scooter andere Verkehrsteilnehmende gefährdet oder mehr als nach den Umständen unvermeidbar behindert oder belästigt werden, leitet die Stadtverwaltung ein Ordnungswidrigkeitsverfahren ein. Das war bislang 33 Mal der Fall.“

Allerdings: „Alle Verfahren sind noch nicht abgeschlossen.“ Adressat einer Verwarnung ist nicht die Vermietfirma, „sondern derjenige, der das Fahrzeug rücksichtslos abgestellt hat. Sollte er sich nicht ermitteln lassen, müsste das Verfahren eingestellt werden. Allerdings können die Verfahrenskosten dann dem Halter in Rechnung gestellt werden.“

Die Verwaltung will den Gerichtsbeschluss aus Münster „prüfen und die Rechtslage insgesamt im Blick behalten, um gegebenenfalls Anpassungen vorzunehmen“.