Braunschweig. Vor 20 Jahren beginnt für Entwicklungshelfer Georg Taubmann in Afghanistan ein Martyrium. Die Liebe zu Land und Leuten ist dennoch geblieben.

Vor genau 20 Jahren wurden acht ausländische Mitarbeiter der christlichen Hilfsorganisation Shelter Now von der damals herrschenden radikal-islamischen Taliban-Regierung als Geiseln genommen. Drei der Inhaftierten kamen aus der Region Braunschweig, wo die Organisation bis heute ihre Geschäftsstelle hat. Die Festnahme geschah im Vorgriff auf die Anschläge vom 11. September, wie man heute weiß. El-Kaida und ihre Gefolgsleute brauchten menschliche Schutzschilde. Georg Taubmann, internationaler Leiter von Shelter Now, erzählt im Interview, wie er das dreieinhalbmonatige Martyrium überlebte.

Herr Taubmann, wann waren Sie zuletzt in Afghanistan?

Das ist jetzt wegen Corona etwas her. Ich war Anfang des Jahres mit meiner Frau dort, auch um den Mitarbeitern in der angespannten Lage zu helfen, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Derzeit werden von den afghanischen Behörden keine Visa ausgestellt. Aber das soll sich bald ändern.

Man hört, die Taliban-Kämpfer erobern mehr und mehr Regionen. Wie lebensmüde sind Sie?

Ich bin ein gläubiger Christ. Wir sind überzeugt, dass nach dem Tod unser Leben weitergeht. Das ist unser Vorteil (lacht). Deshalb habe ich ein starkes Vertrauen in meinen Gott. Ich habe über Jahrzehnte immer wieder gefährliche Situationen erlebt. Auch schon vor der Entführung 2001. Wir sind seit 40 Jahren als Hilfsorganisation vor Ort. Mich kann da wenig schrecken – und wenig davon abhalten, diesem Land und diesen liebenswerten Menschen zu helfen.

Wie kam diese enge Verbindung?

Georg Taubmann mit seiner Frau Marianne im Jahr 2014 auf dem  Flugplatz von Faizabad. Auch heute würde die Ex-Geisel wieder zurück nach Afghanistan reisen.
Georg Taubmann mit seiner Frau Marianne im Jahr 2014 auf dem Flugplatz von Faizabad. Auch heute würde die Ex-Geisel wieder zurück nach Afghanistan reisen. © Shelter Now | Georg Taubmann

Mein Weg nach Afghanistan begann in Braunschweig, wo ich einst in einem Drogentherapie-Zentrum meinen Zivildienst leistete. Hier heiratete ich auch im Jahr 1983 meine Frau. Wir beide wurden noch im selben Jahr von der Kirchengemeinde „Christuszentrum Braunschweig“ an die Grenze zu Pakistan geschickt, um zu helfen, die Not der Flüchtlinge aus zu lindern. Millionen von Afghanen hausten dort unter den unwürdigsten Zuständen, nachdem die Russen einmarschiert waren. Unsere Hilfsaktion für Afghanistan begann daher erst außerhalb der Landesgrenzen mit Lebensmittelverteilaktionen, später bauten wir dort Lehmhäuser, Brunnen, Schulen und Kliniken. Diese Arbeit haben wir dann nach dem Abzug der Russen und dem Zusammenbruch der Sowjetunion in vielen Orten Afghanistans fortgesetzt. Das Ziel war jetzt nicht mehr Nothilfe, sondern der Wiederaufbau des Landes nach zehn Jahren Krieg. Das passierte erst unter den Mudschaheddin, eine Zeit voller Gewalt, weil auch die untereinander tief zerstritten waren, später unter den Taliban und seit 2001 unter den gewählten Regierungschefs Karsai und Ghani. Die Freikirche in Braunschweig unterstützt uns von Beginn an.

Ihre Entführung im Jahr 2001 ist ohne die Machtübernahme durch die Taliban 1996 nicht denkbar. Deswegen müssen wir den Leserinnen und Lesern die Vorgeschichte erläutern. Was passierte, als die Taliban an die Macht kamen?

Die Menschen hatten damals genug von Krieg und Chaos. Sie hatten genug von den Plünderungen und den Kämpfen der Stammesfürsten untereinander. Der Anfang der Taliban-Zeit versprach den Menschen Sicherheit und Hoffnung auf Frieden, so paradox das heute im Wissen der Geschichte klingt. Wir konnten in dieser Phase teilweise uneingeschränkter reisen und Projekte aufbauen als in anderen Zeiten. Doch unter dem Taliban-Chef Mullah Omar, der in Kandahar saß, radikalisierten sich viele Anhänger. Die Scharia wurde zur unverhandelbaren Rechtsprechung und drangsalierte die Menschen. Man wurde gezwungen, täglich fünfmal zu beten. Irgendwann sah man Frauen nur noch mit der Ganzkörperverschleierung und in Begleitung von Männern in die Öffentlichkeit, es kam zu öffentlichen Auspeitschungen und Hinrichtungen. Erst jetzt nahm die Welt Notiz davon.

Sommer 2001. Shelter Now hat überall im Land Projekte aufgebaut. Die Menschen kennen Sie. Dann gerät Ihre Organisation ins Visier der Taliban, warum?

Die Taliban haben uns gekannt und sie haben uns auch gebraucht. Ich sah aus wie ein Einheimischer, hatte einen langen Bart, konnte die Sprache der Menschen sprechen. Wir genossen ein hohes Ansehen, weil auch wir an Gott glaubten. Neben dem Koran ist die Bibel ja auch für Muslime ein wichtiges, eines ihrer heiligen Bücher. Aber jetzt änderte sich rapide die Stimmung, weil immer mehr Extremisten einreisten, vornehmlich aus Pakistan. El Kaida gewann an Einfluss, auch auf Taliban-Chef Mullah Omar. Das Land ist in dieser Zeit immer dunkler, immer finsterer geworden.

Wir wissen heute, dass da längst die Pläne für den 11. September geschmiedet waren. El Kaida brauchte menschliche Schutzschilde. Wie lief aus Ihrer Sicht die Geiselnahme Anfang August ab?

Es war ein Hinterhalt. Die beiden US-Amerikanerinnen, die als erstes verhaftet wurden, waren zuvor immer wieder von einer bestimmten Familie gedrängt worden, einen Jesus-Film zu zeigen. Beide wurden danach festgenommen, ihre Häuser durchsucht. Ich suchte sofort das Gespräch mit dem Bruder des Geheimdienstchefs, den ich sehr gut kannte. Ich rief ihn an. Offenbar kam der Befehl von ganz oben. Die Festnahme erfolgte durch die berüchtigte Religionspolizei des Taliban-Chefs Omar persönlich. Am Ende sagte er mir: ,Diesmal kann ich nichts für Dich tun, Mr. George.‘ Da wusste ich, dass auch mir das Schicksal droht. Shelter Now war ein leichtes Ziel. Wir hatten viele amerikanische Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in unseren Reihen. Zudem ließ sich aus unserem christlichen Glauben leicht eine Verschwörungssaga ableiten.

Was passierte dann?

Beim Versuch, unsere zwei deutschen Mitarbeiterinnen zu einer Besprechung abzuholen, wurde ich verhaftet. Bärtige Männer mit Turbanen rannten auf meinen Jeep zu, warfen mich auf den Rücksitz und rasten weg. Dann kam ich in eine winzige Zelle ohne richtige Toilette – heiß, abgedunkelt, vor der Tür Wächter, die gar nichts für meine Situation konnten. Wir waren insgesamt acht ausländische Geiseln und weitere afghanische Mitarbeiter. Es war das erste von insgesamt fünf
Gefängnissen, in das wir gebracht wurden. Eines davon lag zwei Meter unter der Erde, eine Art Bodenverlies.

Verfolgt Sie die Zeit bis heute?

Ich werde immer wieder an diese schrecklichen Ereignisse erinnert. Man lebte täglich mit der Bedrohung, zu sterben. Ich wurde wochenlang verhört. Es war Psycho-Terror, der immer perfider wurde. So wurden wir immer wieder an öffentlichen Hinrichtungsstellen vorbeigefahren. Damit wollten sie uns zeigen: dieses Schicksal droht euch unausweichlich.

Sie selbst hatten keinen Kontakt zur Botschaft?

Von den diplomatischen Bemühungen, die angelaufen waren, haben wir zunächst nichts mitbekommen. Einmal gab es in der Haft Besuch von einer Delegation, die aus Pakistan angereist war, darunter auch ein deutscher Diplomat. Aber die durften nie allein mit uns sein. Dann wurde sehr schnell ein Schauprozess initiiert, in dem uns der Vorwurf der Missionierung gemacht wurde. Man habe Tausende von Bibeln gefunden, hieß es. Das stimmte alles nicht. Dass Teile der öffentlichen Berichterstattung in Deutschland diese Darstellung nicht hinterfragten, sondern übernahmen, hat mich im Nachhinein sehr geärgert.

Was meinen Sie konkret?

Wir halfen zum Zeitpunkt der Inhaftierung schon mehr als 20 Jahre vor Ort. Die Menschen vertrauten uns,. Wenn wir da mit der Bibel in der Hand pausenlos durch die Straßen Kabuls gelaufen wären, hätten wir spätestens unter den Taliban nicht drei Tage überlebt.

War Ihnen der Name Osama bin Laden damals geläufig? Stimmt es, dass er ihr Nachbar war?

Man hatte den Namen gehört, klar. Osama bin Laden und auch Mullah Omar hatten ihren Lebensmittelpunkt aber in Kandahar. Aber es stimmt: an einem Tag war das Haus in Kabul gleich gegenüber von unserem Büro abgesperrt wie ein Hochsicherheitstrakt. Niemand wollte so recht raus mit der Sprache. Dort wohne jetzt ein sehr wichtiger „Araber“, sagte mir der Hausbesitzer, nachdem ich nicht mehr durch die Straße fahren durfte. Einige Monate zuvor hatte ich noch überlegt, in dasselbe Haus zu ziehen, aber meine Frau legte Widerstand ein. Es gefiel ihr nicht. Von meinem Büro aus hatte ich einen guten Blick auf das Anwesen. Da war oft was los. Ich glaube allerdings nicht, dass Bin Laden selbst oft da war.

Zurück zur Geiselhaft: Es kam der 11. September? Wie haben Sie den Tag in Haft erlebt?

Zwei Tage vorher, am 9. September, wurde durch einen Hinterhalt der mächtigste Oppositionsführer des Landes und Nationalheld Ahmad Schah Massoud getötet. Er war der Einzige, den die Taliban bis dahin nicht unterjochen konnten. An diesem Abend hörte ich Gewehrsalven und Jubel auf der Straße. Zwei Tage später, die gleiche Situation. Auf der Straße riefen die Menschen „Allahu Akbar“. Ich hatte zu einem meiner Aufpasser, einem Taliban, der nicht nur Befehle empfing, sondern auch für uns übersetzte, inzwischen ein sehr gutes Verhältnis. Dieser half uns sogar, Briefe aus dem Gefängnis an unsere Verwandten zu schmuggeln. Er erzählte, was passiert sei. Man habe Tausende von Ungläubigen in den USA getötet. Ich bekam es mit der Angst zu tun.

Was befürchteten Sie?

Schon im August 1998 hatten die USA Afghanistan mit Cruise-Missiles-Raketen beschossen, als Reaktion auf die zeitgleichen El-Kaida-Attacken auf die US-Botschaften in Kenia und Tansania. Ich wusste also, da wird etwas passieren, was diese Dimension bei weitem übertreffen wird. Bei mir lief alles wie in einem schlechten Film ab, ein echter Alptraum. Ich dachte: Hier kommen wir nicht mehr lebend raus, entweder die Taliban töten uns, oder wir sterben im Bombenhagel.

Änderten sich die Haftbedingungen?

Wir wurden in ein Geheimdienst-Gefängnis verlegt, in denen auch Frauen missbraucht und gequält wurden. Daneben war eine Koran-Schule der Taliban mit mehr als 1000 Schülern. Die Schreie der Kinder, die wir immer wieder hörten, werde ich nicht vergessen.

Was bleibt aus dieser Zeit in Erinnerung?

Am Anfang meiner Inhaftierung habe ich von einem Wächter einen Zettel zugesteckt bekommen. Meine Frau hatte ihn in einem Pullover versteckt. Darauf stand: ,Wir flüchten morgen nach Pakistan´. An diesen Tag erinnere ich mich genau, denn ab da wusste ich, dass meine Familie in Sicherheit ist. Aber das Ende der Haftzeit war ein Martyrium. Wir hörten die Angriffe der Alliierten, die das Land mit immer schwereren Bomben überzogen, besonders Kabul. Wir fürchteten, dass es auch uns treffen könnte. Als die Taliban aus Kabul flüchteten, verschleppten sie uns. Wir waren immer noch zu acht, Peter (Peter Bunch, australischer Entwicklungshelfer, Anm. der Red.) und ich sollten hingerichtet werden, die Frauen weiter nach Kandahar gebracht werden. Das sagten sie immer wieder den afghanischen Begleitern.

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Wie lebt man damit?

In dieser Lage hatte ich mit meinem Leben abgeschlossen. Wir haben zusammen gebetet. So hart das klingt: ich hoffte nur, so human wie möglich hingerichtet zu werden.

Was passierte als Nächstes?

Unsere Entführer hatten nahe dem Ort Ghasni eine Pause gemacht und uns in ein weiteres Gefängnis gesperrt. Wir hörten immer wieder Schüsse. Dann sahen wir sie plötzlich wegrennen. Die Tür zur Zelle ging auf, Männer, die sich nicht wesentlich von den Taliban-Schergen unterschieden, standen mit Kalaschnikows vor uns. Die Angst war kurz zurück, der Blutdruck im Unermesslichen. Doch die Personen, die uns erblickten, waren völlig überrascht, überraschter als wir selbst. Vor uns standen Kämpfer der oppositionellen Nordallianz. Ich küsste ihren Anführer vor Glück auf die Stirn. Am selben Tag unserer Befreiung war auch Kabul befreit.

Das ist für Außenstehende unfassbar. Wenn Sie jetzt hören, dass die, die Sie erniedrigten, das Land wieder terrorisieren, was denken Sie?

Es ist unbeschreiblich. Denn die deutsche Politik hat sich zuletzt immer wieder anders geäußert. Bundesaußenminister Maas hat noch im März im Bundestag davor gewarnt, die Afghanen ihrem Schicksal zu überlassen. Nichts anderes ist mit dem Abzug der internationalen Truppen passiert. Dieses Land kann man nicht verteidigen, ohne Soldaten und Logistik vor Ort. Die Taliban sind wieder mächtig, wie vor 1996. Sie haben weltweit Unterstützer. Und die afghanischen Soldaten geben aus Angst vor Gräueltaten ihren Widerstand auf. Die Schreckensherrschaft von einst droht sich zu wiederholen, hunderttausende von Afghanen sind wieder auf der Flucht. Diese Situation hat der Westen mitverschuldet.