Braunschweig. Wochenlang stritten Politiker, wie viele Ortskräfte Schutz in Deutschland suchen dürfen. Jetzt ist eine Lösung da. Bürokratische Hürden bleiben.

Was passiert aber mit den afghanischen Zivilangestellten? Überlässt man sie ihrem Schicksal und somit den Taliban? Oder zeigt die Bundesrepublik ihnen und ihren Familien Verantwortung und bringt sie in Sicherheit nach Deutschland?

Das fragt Leser Joachim Stöhler aus Braunschweig

Zu dem Thema recherchierte Dirk Breyvogel

„Ist das alles vergessen?“, fragt Abed Nadjib. Der Mann aus der Gemeinde Meine im Kreis Gifhorn kennt Afghanistan wie wohl kaum ein Zweiter in unserer Region. Es ist seine Heimat. „Und die Lage dort ist aktuell nicht gut“, sagt er im Gespräch mit unserer Zeitung. Nadjib war mehr als 20 Jahre (1994 bis 2016) im diplomatischen Dienst seines Landes tätig. Erst in Bonn, später in Berlin fungierte er als Gesandter des Botschaftsrates, noch bis 2018 übernahm er beratende Tätigkeiten für die Botschaft.

Er ist zudem Gründungsmitglied des „Afghanisch-deutschen Forums“ (ADF), deren Vertreter sich nach mehr als 40 Jahren Krieg und Konflikten nichts sehnlicher als „Frieden, Freiheit und Sicherheit“ für die Landleute wünschen.

US-Truppenabzug am Unabhängigkeitstag

Ein Bundeswehrsoldat (links) und ein Dolmetscher (rechts) sprechen nahe Kundus mit einem Afghanen. Deutschland will weitere sogenannte „Ortskräfte“ aufnehmen. Nach dem Abzug der Isaf-Truppen fürchten viele ehemalige Bundeswehr-Helfer Racheakte durch die Taliban.
Ein Bundeswehrsoldat (links) und ein Dolmetscher (rechts) sprechen nahe Kundus mit einem Afghanen. Deutschland will weitere sogenannte „Ortskräfte“ aufnehmen. Nach dem Abzug der Isaf-Truppen fürchten viele ehemalige Bundeswehr-Helfer Racheakte durch die Taliban. © dpa | Archivfoto: Maurizio Gambarini

Doch diesem Wunsch stehen die radikal-islamischen Taliban im Weg und ihr Unrechtsregime, niedergeschrieben in der Scharia, deren Regeln und Normen sie laut Nadjib alles unterordnen. Die Strafen für vermeintlich begangenes Unrecht seien bestialisch. „Abgeschnittene Finger, öffentliche Steinigungen, Menschen, die lebendig begraben werden, Mädchen und junge Frauen, die nicht in die Schule und auch nicht auf die Straße gehen dürfen, Kinder, die nicht mit Puppen spielen dürfen“, zählt Nadjib die Taten auf, von denen er immer wieder erfahren hat, als die religiösen Fanatiker zwischen 1996 und 2001 an der Macht waren. „Ist das alles wirklich vergessen? Ist uns das alles jetzt egal?“

Am letzten Wochenende, nicht zufällig an ihrem Unabhängigkeitstag, dem 4. Juli, verließen die USA das Land am Hindukusch. Symbolisch schlossen sie Bagram ab, den zentralen US-Stützpunkt der Mission „Enduring Freedom“. Diese hatte nach den Anschlägen vom 11. September im Oktober 2001 begonnen. Noch vor den Amerikanern hatte auch die Bundeswehr ihr Zeltlager in Masar-i-Scharif geräumt. Mit dem Abzug der internationalen Truppen tragen jetzt die afghanischen Sicherheitsbehörden Verantwortung. Befürchtungen, die Gewalt werde jetzt erst Recht eskalieren, scheinen sich zu bestätigen. Beobachter vor Ort machen täglich Geländegewinne der Taliban aus. Ein Viertel aller Distrikte im Land sei schon unter Kontrolle der Extremisten, hieß es zuletzt.

Brief an die Bundestagsabgeordnete

Darunter leide insbesondere die Zivilbevölkerung, sagt das ADF. „Viele Menschen in Afghanistan und ihre Freunde in Deutschland befürchten, dass beim ,geordneten Abzug’ nur die eigenen deutschen Kräfte und die ,Gesichtswahrung Deutschlands’ im Fokus stehen, und das die existenziellen Risiken und Auswirkungen des Abzugs für die Menschen in Afghanistan außer Acht gelassen werden. Das würde das Versprechen aller Afghanistanmandate seit 2001 konterkarieren und dem Anspruch deutscher Außen- und Sicherheitspolitik, Gewaltkonflikte zu verhindern, Menschenrechte zu schützen und Frieden zu fördern, diametral zuwiderlaufen“, schrieb das Gremium bereits am 22. Juni, anlässlich einer Aktuellen Stunde in einem Brief an die Fraktionen der im Bundestags vertretenen Parteien. Unterstützung für das Anliegen hätten alle politischen Vertreter signalisiert, berichtet Nadjib. „Bis auf die AfD.“

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Auf die Fragen des Lesers hat die Politik inzwischen Antworten gefunden, die nicht jeden zufrieden stellen, die aber aus Sicht von Menschenrechtlern einen Fortschritt zur Ausgangslage darstellen. So war zunächst angedacht, nur Afghanen und Afghaninnen, die in den vergangenen zwei Jahren unter anderem als Dolmetscher vor Ort die Bundeswehr und das dort angesiedelte Polizeiprojekt unterstützt hatten und die sich unter dem wachsenden Einfluss extremistischer Kräfte am Hindukusch zunehmend bedroht fühlen, nach Deutschland zu holen. Es handelte sich dabei um rund 350 Personen und ihre nächsten Angehörigen. Dazu zählten Ehefrau bzw. Ehemann sowie Kinder unter 18 Jahren.

Pistorius will mehr Ortskräfte nach Deutschland holen

Auf der Innenministerkonferenz der Bundesländer (IMK) Mitte Juni im baden-württembergischen Rust einigte man sich jedoch darauf , diese Personengruppe zu erweitern. Jetzt gilt: Einheimische „Ortskräfte“ – auf die der Leser abzielt – die seit 2013 für die Bundeswehr tätig waren, besitzen die Möglichkeit, in die Bundesrepublik einzureisen. Auch erwachsene Kinder, die unverheiratet sind, seien miteingeschlossen. Dabei handele es sich um einen Akt der Humanität. „Es geht hier nicht darum, dass diese Menschen ein Asylverfahren durchlaufen müssen“, erklärt Simone Schelk, Sprecherin von Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD) auf Nachfrage unserer Zeitung.

So war es offenbar Pistorius, der sich laut Aussagen des Niedersächsischen Flüchtlingsrates massiv für diese Lösung eingesetzt hatte. In dem Antwortschreiben des Pistorius-Ministeriums auf Fragen unserer Zeitung wird auf die „Fürsorgepflicht“ und die „moralische Verantwortung“ hingewiesen, die Deutschland gegenüber diesen Menschen habe. „Das begrüßen wir. Dennoch gibt es vor Ort immer noch massive Probleme. Wir hören davon, dass die Menschen gar nicht wissen, wo sie sich melden sollen“, sagt Kai Weber, Geschäftsführer des Flüchtlingsrates unserer Zeitung. Teilweise säßen die Menschen mit einem Visum und den ausgestellten Nato-Papieren in der Türkei fest.

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Auch die Botschaften fühlten sich nicht zuständig. Menschen würden einfach weggeschickt. Die vom Bundesverteidigungsministerium versprochenen Kontaktstellen fehlten immer noch. „Da muss Frau Kramp-Karrenbauer endlich ihren Versprechungen Taten folgen lassen“, fordert Weber.

Landesinnenminister Pistorius weist in dem Zusammenhang auf die Ergebnisse der Innenminister-Konferenz hin. So habe man sich dafür ausgesprochen, die Visa-Verfahren für diese Personen zu verschlanken. „Und zwar dadurch, den schutzbedürftigen Ortskräften ein Visum direkt bei Ankunft in Deutschland auszustellen, ein ,Visa on arrival`. Das entlastet unsere Botschaft vor Ort und ermöglicht eine schnelle und unkomplizierte Ausreise für die betroffenen Menschen. Das Land Niedersachsen drängt zudem den Bund, für die Helfer und ihre Familien die Flugkosten oder einen wesentlichen Teil davon zu übernehmen.

Nach Angaben des Ministeriums hat Niedersachsen in der Vergangenheit bereits ehemalige Ortskräfte aufgenommen. Aktuell seien dem Land 44 Personen plus deren Angehörige zugewiesen worden. Man stelle sich aber aufgrund der gefundenen Neuregelung bei der IMK auf weitere Zuweisungen ein, deren „Größenordnung etwa mindestens denen der bisherigen Zuweisungen entsprechen dürfte“, so Ministeriumssprecherin Schelk.

Streit um Flugkostenübernahme

Glaubt man Thomas Ruttig, Ko-Direktor der Forschungsorganisation „Afghanistan Analysts Network“, bestünden allerdings weiter bürokratische Hürden. So sei auch der Streit um die Flugkostenbezahlung nicht gelöst. Ruttig, der auch als Afghanistan-Experte vom niedersächsischen Flüchtlingsrat genannt wird, sagt, bereits erteilte Visa-Bescheinigungen blieben deshalb ungenutzt. Die Organisation Pro Asyl erklärte gegenüber der Deutschen Welle: „Auch für diesen begünstigten Personenkreis wird es nahezu unmöglich sein, selbstständig Flugtickets außer Landes zu organisieren, geschweige denn sicher den Flughafen Kabul zu erreichen.“

Der niedersächsische Flüchtlingsrat kritisiert gegenüber unserer Zeitung, dass das Einreiseangebot nur an diejenigen ausgesprochen worden sei, die direkt bei der Bundeswehr angestellt waren. Angeworbene Mitarbeiter von Subunternehmen, die beispielsweise Soldaten mit Essen oder anderen Dingen des täglichen Bedarfs beliefert hätten, seien dabei hinten runtergefallen. Auch diese Menschen liefen Gefahr, Opfer von Racheakten der Taliban zu werden.

Hilfsorganisationen außen vor“

Auch Abed Nadjib hält es für unabdingbar, dass den Bundeswehr-Helfern vonseiten der Bundesrepublik humanitäre Hilfe angeboten wird. „Das muss jetzt ganz unbürokratisch geschehen“, fordert er. Je mehr politische Verantwortung die Extremisten in seiner Heimat künftig erhielten, je größer sei auch die Gefahr „Zielscheibe von Angriffen zu werden“, ist der langjährige Diplomat überzeugt. Die Ängste vor Konsequenzen seien berechtigt.

Nadjib weist darauf hin, dass die Taliban auch viel Leid in deutsche Familien gebracht hätten. „Es sind nicht nur Soldaten im Einsatz gestorben oder schwer verletzt worden. Viele Bundeswehrangehörige sind mit psychischen Problemen zurückgekehrt. Und es sind auch viele Ehen an dem Einsatz zerbrochen. Das habe ich immer wieder während meiner Tätigkeit als Botschaftsgesandter mitbekommen.“

Der Braunschweiger Udo Stolte, Geschäftsführer des christlichen Hilfswerks Shelter Now und seit Jahrzehnten immer wieder vor Ort, macht dagegen nur vereinzelte Drohungen gegen seine einheimischen Mitarbeiter aus. „Es gibt Mails und Briefe, die unseren Mitarbeitern vorwerfen, sich an den Westen zu verkaufen“, sagte er. Das bestätigt auch der niedersächsische Flüchtlingsrat mit Blick auf andere karitative Einrichtungen. Gedanken daran, nach Deutschland auszuwandern, verschwendeten die Shelter-Now-Mitarbeiter nicht, so Stolte. Jedoch sei aufgrund der aktuellen Sicherheitslage an Besuche oder die Betreuung der Hilfsprojekte vor Ort durch ihn persönlich oder andere Mitarbeiter nicht zu denken.

Keine Anzeichen auf eine stabile Feuerpause

Ex-Diplomat Nadjib kritisiert im Gespräch mit unserer Zeitung, das Hofieren der Taliban durch die USA, insbesondere durch die Administration von Ex-Präsident Donald Trump. „Man hat ihnen mit dem Angebot direkter Friedensverhandlungen eine politische Plattform gegeben, die ich nicht gutheißen kann“. Dafür wäre in der Vergangenheit zu viel passiert, sagt er. Und seit dem Angebot sei nichts passiert, nicht einmal auf eine stabile Feuerpause habe man sich einigen können. Auch wenn aktuell Friedensgespräche im Iran laufen, ist für Nadjib das Gebaren der Taliban unerträglich. Es zeige, wie mächtig sie bereits seien und wie viele Unterstützer sie weltweit hätten. „Eigentlich gehören sie für ihre Taten vor Gericht und nicht an den Verhandlungstisch.“

Dabei sei, so Nadjib, in den letzten zwanzig Jahren viel Gutes in seiner Heimat passiert. Erst das militärische Eingreifen habe die Chance auf ein demokratischeres Afghanistan ermöglicht, bei allen Problemen, die es auch ohne die Taliban geben würde, sagt er. „Insbesondere bei Fragen der Bildung und der Gleichberechtigung ist das Land ein anderes geworden. Ich habe Angst, dass das, was aufgebaut wurde, wieder eingerissen wird.“

Er selbst habe im wissenschaftlichen Austausch unter anderem mit Berliner Universitäten circa 160 jungen Afghaninnen und Afghanen zu einem Master-Abschluss verholfen. „Diese Menschen sind jetzt wieder in ihrer Heimat und hoffen, dass sie dort eine Zukunft haben.“

Der Kommentar zum Thema:Afghanistan oder der moralische Bankrott