Braunschweig. Zuckmücken-Fossilien geben Forscherinnen der TU Braunschweig Aufschluss über die Umweltbedingungen Niedersachsens zur Zeit der Schöninger Speere.

Bärtige Gesellen, in dicke Lagen Pelz gewandet, machen auf eiskalten, windgepeitschten Steppen Jagd auf zottelige Mammuts und Wollhaarnashörner: Das gängige Bild, das wir von der menschlichen Frühgeschichte im Kopf tragen, ist geprägt von Eis, Gletschern und Schnee. Mit den Bedingungen, welche die Heidelbergmenschen vor mehr als 300.000 Jahren nahe dem heutigen Schöningen vorfanden, als sie dort jagten und ihre jetzt weltberühmten Speere einbüßten, haben diese Vorstellungen allerdings wenig zu tun. Tatsächlich lebten die steinzeitlichen Jäger in einer Übergangsperiode von einer Warmzeit zu einer Kaltzeit – in erstaunlich milden klimatischen Verhältnissen.

Mückenlarven geben Auskunft

Wie die Klima- und Umweltbedingungen genau aussahen, erforscht jetzt ein vom Land Niedersachsen gefördertes Projekt vom Institut für Geosysteme und Bioindikation der TU Braunschweig um die Professorin Antje Schwalb. Ein winziges Insekt, die Zuckmücke, spielt dabei eine besondere Rolle. Anhand der fossilen Larven der Insekten, die in eben jenen Schichten des Schöninger Tagebaus gefunden wurden, aus denen man auch die hölzernen Speere freigelegt hat, lässt sich viel über die damalige Umwelt ablesen.

Ein See bedeckte die Fläche des heutigen Tagebaus

Zugute kommt den Forscherinnen, dass sich auf der Fläche des Tagebaus, in dem sich die Grabungsstelle befindet, damals ein See erstreckte. In dessen Sedimenten haben sich nicht nur Speere, Wurfhölzer und die jüngst entdeckten Knochen eines Waldelefanten erhalten, sondern auch winzige Überreste der im Wasser

Die Kopfkapsel einer Zuckmückenlarve des Typs Chironomus anthracinus aus den gleichen Sedimentschichten wie die Speere in Schöningen.
Die Kopfkapsel einer Zuckmückenlarve des Typs Chironomus anthracinus aus den gleichen Sedimentschichten wie die Speere in Schöningen. © TU Braunschweig | Sónja Rigterink

lebenden Zuckmückenlarven. Auch heute noch sind Zuckmücken, die übrigens nicht stechen, weltweit verbreitet, erklärt Schwalbs Doktorandin Sonja Rigterink. „In kalten Gegenden findet man sie ebenso wie in wärmeren. Sie haben sich an ein breites Spektrum von Bedingungen angepasst.“

Schlämmen, ordnen, mikroskopieren – und das hundertfach

Seit drei Jahren hat die 26-Jährige die vielen, auf unterschiedliche Lebensräume spezialisierten Zuckmücken studiert, die sich alle leicht voneinander unterscheiden. Im Umkehrschluss erlaubt das Aussehen der in Schöningen gefundenen Zuckmückenreste, Aussagen über die klimatischen Verhältnisse zur Zeit der Steinzeitjäger zu machen. Die Zuckmücke ist damit ein sogenannter Bioindikator. Konkret, so Rigterink, heißt das: „Je nachdem, von welchen Zuckmückenarten wir Larven in welcher Zahl finden, wissen wir, wie warm damals die Sommer waren und welchen PH-Wert, welche Tiefe oder welchen Salzgehalt das Wasser hatte.“

Die Arbeit der Braunschweiger Forscherinnen ist sehr kleinteilig: das „Schlämmen“ der Sedimente, um an die Mini-Fossilien zu gelangen, das Ordnen und Erfassen der Organismen, viel Mikroskopieren – „und das Ganze jeweils bei mehreren hundert Proben“, erklärt Kim Krahn (32), ebenfalls Doktorandin. Sie beschäftigt sich schon länger mit mit dem Schöninger Tagebau. In einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Projekt hat sie Kieselalgen und winzige Krebse untersucht und als „Klima-Zeitzeugen“ befragt.

Die Sommer waren sogar wärmer als heute

Dabei heraus kam etwa: „Allgemein erwartet man ja, dass es kurz vor Beginn der Eiszeit schon sehr kalt ist. Wir aber haben festgestellt, dass bei Wintern, die nur geringfügig kälter waren als unsere heutigen, die Sommer teils sogar noch ein bis zwei Grad wärmer waren als heute.“ Überdies habe sich gezeigt: Das

Die Sedimentschichten der Schöninger Grabungsstelle – hier mit Grabungsleiter Jordi Serangeli – sind sehr gut erhalten. Die darin enthaltenen Fossilien sind ein einzigartiges Klimaarchiv Niedersachsens.
Die Sedimentschichten der Schöninger Grabungsstelle – hier mit Grabungsleiter Jordi Serangeli – sind sehr gut erhalten. Die darin enthaltenen Fossilien sind ein einzigartiges Klimaarchiv Niedersachsens. © picture alliance / dpa | Julian Stratenschulte

Seewasser war nährstoffreich, die Pflanzenwelt extrem vielfältig. Der Fundort sei ein Flachwasserbereich gewesen. Der Wasserspiegel habe oft geschwankt – ein Grund für den guten Erhaltungszustand der Schöninger Funde, so Krahn: „Dass der Seespiegel immer wieder mal anstieg, sorgte dafür, dass das organische Material rasch vom Sauerstoff abgeschlossen wurde und dieses sich nicht zersetzt hat.“

Erst die Kombination der Indizien bringt’s

Krahn und Rigterink betonen beide, dass niemals ein einziger Indikator ausreicht, um Schlüsse zu ziehen. „Wir vergleichen unsere Ergebnisse immer auch mit denen anderer Untersuchungen und Disziplinen“, erklärt Krahn. „Erst durch die Kombination verschiedener Indikatoren – etwa Zuckmücken, Kieselalgen, Pollen aber auch Großsäuger – erhält man valide Ergebnisse.“ Einen großen Vorteil sehen die Braunschweigerinnen aber schon bei ihrer Methode: „Da die Sedimentschichten so gut erhalten sind und die winzigen Tiere, die wir untersuchen, so massenhaft vorkommen, können wir uns das Klima in sehr hoher zeitlicher Auflösung ansehen – anders als dies etwa anhand einzelner Großtierfunde möglich ist“, so Krahn.

Auf der Suche nach „Tipping Points“ für Klimamodelle

Für Archäologen sind die Erkenntnisse der Paläo-Klimaforscherinnen überaus wertvoll. Diese wollen allerdings auch einen Beitrag zur aktuellen Klimawissenschaft liefern. „Spannend sind unsere Daten etwa, um Klimamodelle zu füttern, mit deren Hilfe Prognosen erstellt werden können“, erklärt Krahn. Konkret gehe es darum, Wissen über „Tipping Points“ – sogenannte Umschlagspunkte – zu gewinnen: Grenzwerte bestimmter Umweltfaktoren, die abrupten Klimaveränderungen voraus- oder mit diesen einhergehen.

Schwalb über Finanzierung: „Es wurde auch Zeit“

Projektleiterin Antje Schwalb unterstreicht, das im Herbst startende Forschungsprojekt, das zusammen mit dem Landesamt für Denkmalpflege durchgeführt wird, sei das erste Mal, dass Braunschweiger Schöningen-Forscher entsprechend vom Land Niedersachsen bedacht werden – mit rund 200.000

Antje Schwalb ist Geologin und Leiterin des Instituts für Geosysteme und Bioindikation der TU Braunschweig.
Antje Schwalb ist Geologin und Leiterin des Instituts für Geosysteme und Bioindikation der TU Braunschweig. © Iris Antelmann

Euro für drei Jahre. Schwalb freut sich über die Förderung, sagt aber selbstbewusst: „Es wurde auch Zeit. Schließlich waren wir, wie viele niedersächsische Forscher, nicht amüsiert darüber, dass die Landesmittel bisher praktisch ausschließlich ans Senckenberg-Zentrum der Uni Tübingen geflossen sind.“ Die Klimaforscherin hofft, dass die jetzige Finanzierung vom Land erst der Anfang ist: „Wir wünschen uns, dort weiterzuarbeiten – und zwar in großem Stil.“ Ein weiterer Antrag für ein Verbundvorhaben in Schöningen werde schon vorbereitet.

Übernimmt Senckenberg das Paläon?

Die Grabungsstelle am Elm wird seit vier Jahren vom Senckenberg-Zentrum für menschliche Evolution und Paläoumwelt der Universität Tübingen bewirtschaftet. Das Land Niedersachsen stellt den Tübingern hierfür laut dem Vertrag, der unserer Zeitung vorliegt, jährlich bis zu 370.000 Euro zur Verfügung. Das Speere-Museum Paläon befindet sich in der Trägerschaft des Landes. Niedersachsens Wissenschaftsminister Björn Thümler (CDU) verhandelt derzeit mit der Senckenberg-Gesellschaft über deren mögliche Übernahme auch des und Museumsbetriebes.

Lesen Sie einen Kommentar über die Bedeutung des ehemaligen Paläon in Schöningen: