„Aus einer tendenziell moralischen ist am Ende eine streng betriebswirtschaftliche Entscheidung geworden.“

Volkswagen hatte sich mit der Investitionsentscheidung schwer getan. Darf man, sollte man ein Werk in der Türkei und damit in einem Land ansiedeln, dessen Regierung die Menschenrechte und die Pressefreiheit missachtet und zuletzt in Nordsyrien einen Angriffskrieg führte? „Volkswagen darf und muss moralisch sein“, hatte Betriebsratschef Bernd Osterloh vergangenen Oktober im Interview mit unserer Zeitung gesagt.

Die Entscheidung lag auf Eis. Nun nimmt Corona sie dem Autobauer ab. Die Automärkte überall auf der Welt waren über Monate zusammengebrochen, sie erholen sich nur allmählich. Der Neubau einer Fabrik mit einer Kapazität von 300.000 Fahrzeugen pro Jahr wäre deshalb unternehmerischer Wahnsinn gewesen. Niemand weiß ja, wie lange die Covid-Krise noch dauert; die Entwicklungen außerhalb Deutschlands sind besorgniserregend. Die zu erwartenden Verkäufe kann Volkswagen mit Hilfe der bestehenden Fabriken stemmen. Um die Durststrecke zu überstehen, schnallt der Konzern den Gürtel eng – die Sicherung der Liquidität verträgt sich schlecht mit einer Milliarden-Investition. Und selbstverständlich wären die in- und ausländischen VW-Standorte unter zusätzlichen Druck geraten. Anderswo Arbeitsplätze abzubauen, um Arbeit für das türkische Werk zu schaffen, das hätte weder das Management noch der Betriebsrat vertreten können. Aus einer tendenziell moralischen ist am Ende eine streng betriebswirtschaftliche Entscheidung geworden. Es gab keine Alternative.

Man mag den Verzicht bedauern. Das Engagement von Volkswagen in der Türkei hat eine Dimension, die unterschätzt wird: Es hätte die gefährlich brüchig gewordenen Bindungen zwischen Deutschland und der Türkei stärken und deutsche Unternehmenskultur, deutsche Sozialstandards an den Bosporus bringen können. Egon Bahrs Wort vom „Wandel durch Annäherung“ passt hierher.