Braunschweig. Zwei Hochhäuser wurden unter Quarantäne gestellt. Die Uni-Stadt gilt als Hotspot. Es gibt aber auch Solidaritätsbekundungen mit den Bewohnern.

Egal welcher Herkunft die Personen sind, die in Göttingen derzeit in Quarantäne sind, es kann nicht angehen, dass die Polizeibeamten angegriffen werden!

Das meint ein Leser, der sich im Internet „Brunswieker“ nennt

Zu dem Thema recherchierte
Dirk Breyvogel

Was verbinden Sie mit Göttingen? Gauß und Lichtenberg, Gänseliesel und Basketball, Antifa und Uni-Medizin. ICE-Bahnhof, Fahrräder, studentisches Flair und horrende Miet- und Wohnungspreise. In diesen Tagen hat die Stadt im Süden Niedersachsens eine Berühmtheit erlangt, auf die sie liebend gerne verzichtet hätte. Wegen zweier unter Quarantäne gestellter Hochhauskomplexe gilt Göttingen, neben der Fleischfabrikation Tönnies in Rheda-Wiedenbrück im Kreis Gütersloh, bundesweit als Corona-Hotspot – ein echter Makel.

Private Feiern? Wie kam es zum Corona-Ausbruch?

Zweimal mussten die städtischen Gesundheitsbehörden in den letzten Wochen rigoros einschreiten und mehrere hundert Bewohner, erst im Iduna-Zentrum nördlich des Göttinger Hauptbahnhofs und dann unweit davon an der Groner Landstraße, isolieren. Innerhalb weniger Tage war es dort zu Infektionsausbrüchen gekommen.

Im ersten Fall vermuteten die Behörden, dass sich die Menschen zu privaten Feiern anlässlich des Zuckerfestes verabredet hatten – und so das Virus leichtes Spiel hatte, viele Menschen zu infizieren. Mittlerweile wird diese Darstellung von Bewohnern scharf kritisiert. Das Infektionsgeschehen habe außerhalb des Gebäudes und schon vor dem Festtag seinen Ursprung gehabt.

In dem behördlich abgeriegelten Gebäudekomplex an der Groner Landstraße kam es dann am Wochenende zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, bei denen Polizisten von den Bewohnern angegriffen und acht von ihnen auch verletzt wurden. Wie der Leser anmerkt, ein nicht zu akzeptierender Umstand, den auch der Landesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Dietmar Schilff, im Gespräch mit unser Zeitung (wir berichteten) als unerträglich bezeichnet hatte.

Das sagt der Stadtelternrat

Die Einschränkungen der Quarantänemaßnahmen in Göttingen waren und sind allerdings nicht nur für die betroffenen Mieter drastisch. Auch für andere Einwohner der Stadt änderte sich das Leben. So ordnete der Krisenstab unter der Leitung von Sozialdezernentin Petra Broistedt nach dem Ausbruch im Iduna-Zentrum unter anderem an, auch Schulen zu schließen, um das Risiko einer weitflächigen Ausbreitung des Virus zu unterbinden.

Janek Freyjer spricht für den Vorstand des Göttinger Stadtelternrates. Er ist zwiegespalten, wenn er an die Vorkommnisse rund um die „Quarantäne“-Hochhäuser denkt. Wie ihm sei es vielen Eltern ergangen, deren Kinder nicht in die Schule hätten gehen können. Man habe sich sehr früh dafür ausgesprochen, die Präsenzpflicht der Schüler auszusetzen. Die Stadt sei dann noch weiter gegangen als man selbst gefordert hatte. „Im Nachhinein war unser Impuls der Richtige und die Entscheidung der Stadt auch“, sagt Freyjer im Gespräch mit unserer Zeitung. So wären auch die Kinder des nun von einem weiteren Corona-Ausbruch betroffenen Wohnungskomplexes in der Zwischenzeit nicht in die Schulen gegangen. „So ist vermutlich verhindert worden, dass das Virus in die Klassenräume getragen wurde.“

Zwischenzeitlich jedoch hatte der Elternrat massive Kritik am Corona-Krisenstab geübt. In einem Brief vom 2. Juni hatte Freyjer seinen Unmut so formuliert: „Wir sind Sprachrohr und Interessenvertretung der Elternschaft. Deren Interessen und Bedürfnisse sehen wir aktuell durch den Krisenstab nicht ausreichend berücksichtigt.“

Debatte über Zustände in Hochhäusern gefordert

Drei Wochen später, nach den Vorfällen in der Groner Landstraße, ist seine Wut kurioserweise etwas verraucht. Er gibt zu: Der Ärger nach dem ersten Ausbruch im Iduna-Hochhaus sei groß gewesen. Nicht nur bei ihm, sondern bei vielen Menschen mit schulpflichtigen Kindern. Er habe etwa 20 Anrufe an dem Tag aus dem Elternkreis erhalten, als das ganze Ausmaß offensichtlich geworden wäre.

Heute klingt Freyjer versöhnlicher. Er weist auf einen Umstand hin, der den Corona-Ausbruch aus seiner Sicht begünstigt hätte. „Wenn Corona überstanden ist, spätestens dann muss endlich eine Debatte in Göttingen darüber geführt werden, wie die Stadt Wohnungseigentümer zur Rechenschaft ziehen kann, die Mietern solche Wohnungen zum Leben anbieten.“ In anderen Städten sei dieses Durchgriffsrecht möglich, Beispiele nennt er nicht. Die von der Quarantäne betroffenen Menschen „hausten“ unter den erbärmlichsten Bedingungen. Schon vor der Krise hätten Behörden wie Feuerwehr oder Gesundheitsamt Probleme gehabt, hier Zugang zu erhalten. Da sei es um Brandschutzbestimmungen oder eine mögliche Überbelegung der Wohnungen gegangen, sagt Freyjer.

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Rund 400 Appartements hat der Iduna-Komplex, der nach einer großen Versicherung benannt ist. Als der Bau vor 45 Jahren hochgezogen wurde, galt es noch als schick, dort zu leben. Innenstadtnah und mit einem Blick über die Stadt. Auch Ärzte und Anwälte zogen damals ein, erzählte eine Anwohnerin jüngst der Deutschen Presse-Agentur dpa. Es gab ein Schwimmbad und eine Sauna. Orte, die zur Entspannung einladen sollten, die jedoch schon Mitte 1980er Jahre aus Kostengründen geschlossen wurden.

Mahnendes Beispiel Ihme-Zentrum Hannover

Nicht nur in Göttingen stellten sich Architekten und Stadtplaner in dieser Zeit so das Ideal vom Wohnen und Leben vor. Auch das Ihme-Zentrum in Hannover spiegelt diese Haltung wider. Geplant und hochgezogen schon in den 1960er Jahren, also wesentlich früher als der Iduna-Komplex in Göttingen, rottet der 300.000 Quadratmeter große Koloss im Stadtteil Linden-Nord seit Jahren mehr oder minder vor sich hin. Er ist längst zum Abschreibungsobjekt von Hedge-Fonds verkommen – früher versprach Wohnen dort noch Exklusivität. „Die Großwohnsiedlungen aus den 1970er Jahren sollten ursprünglich dem sozialen Austausch und dem sozialen Miteinander dienen“, erklärt der früher in Göttingen tätige Humangeograph Michael Mießner von der TU Dresden. Dies sei meistens nicht erreicht worden. „Die Gebäudekomplexe galten schnell als kalt und seelenlos.“

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Die beiden jetzt in die Schlagzeilen geratenen Hochhäuser kennt in der Universitätsstadt Göttingen jeder. „Sozialer Brennpunkt“ ist das geflügelte Wort, wenn man über die Viertel redet, die von den Wohnanlagen geprägt werden. Orte, in denen Menschen leben, die die Gesellschaft abgeschrieben hat und die oftmals auch selbst nicht mehr allzu viel vom Leben erwarten. Alles sei sehr eng, nichts ist renoviert, sagt Elternratsvorstand Freyjer. „Ich würde auch den Fahrstuhl nehmen und nicht 20 Stockwerke zu Fuß laufen, wenn ich dort leben müsste“, verweist er auf Umstände, die die Ausbreitung des Virus unvermeidlich fördern würden. Mit Blick auf die Randale im Komplex Groner Landstraße, sagt er: „Mir fehlt jedes Verständnis für die Gewalt gegen die Polizei, aber das ganze hat auch eine andere Dimension. Die Situation ist schwierig für die Menschen dort. Eigentlich ist das hier eine gesellschaftliche Tragödie.“

So bewertet die Jugendhilfe die Lage in Göttingen

Christian Hölscher, Geschäftführer der Jugendhilfe Göttingen 
Christian Hölscher, Geschäftführer der Jugendhilfe Göttingen  © Jugendhilfe Göttingen e.V. | Jugendhilfe Göttingen

Christian Hölscher ist Geschäftsführer der Jugendhilfe Göttingen e.V. Die im Jahr 1986 gegründete Einrichtung betreibt seit 2012 am Iduna-Zentrum ein Büro, den Familientreff Iduna-Zentrum. „Wir haben uns damals überlegt, dass wir raus aus der Idylle der Innenstadt müssen und dahingehen müssen, wo es brennt und wo die Menschen sind, die unsere Hilfe benötigen“, erklärt er gegenüber unserer Zeitung. Das sei ein ungewöhnliches, bundesweit fast einzigartiges Vorgehen. Er berät dort mit seinem Team Eltern aus dem Hochhaus. „Die Situation der Kinder steht im Mittelpunkt der Gespräche, aber wir sensibilisieren die Menschen dort auch in Erziehungsfragen und helfen Ihnen, ihre sprachliche Kompetenz zu verbessern.“ Hölscher spricht davon, die Bewohner „an das System“ heranzuführen und beziffert den Anteil der Kinder, deren Eltern nicht aus Deutschland kommen, auf „zwischen 70 und 80 Prozent“.

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    Die Situation für Kinder und Jugendliche sei deshalb so problematisch, weil es keine Grünflächen rund um das Gebäude gebe. „Außer einer asphaltierten Parkplatzfläche ist da nichts.“ Es gebe keinen Platz zum Spielen, keinen Ort, um der Enge der Wohnungen zu entfliehen. Auch im Iduna-Komplex gebe es Vandalismus, Verschmutzung und in Teilen ein schwieriges Klientel sagt er. „Deswegen war es uns auch so wichtig, dass wir hier über einen separaten Eingang in unsere Beratungsstelle kommen.“

    Wohnkomplex Groner Landstraße: Das ist Endstation

    Auch die Verhältnisse in der Groner Landstraße kennt Hölscher genau. Dort berät die Jugendhilfe nicht vor Ort. Die Situation sei nicht mit den Verhältnissen im Iduna-Komplex zu vergleichen, auch wenn es sich bei beiden Corona-Ausbruchsorten um Hochhäuser gehandelt habe. „Der Komplex in der Groner Landstraße war schon immer ein Ort in Göttingen, der wie kein zweiter für sozialen Abstieg stand und auch heute steht. Das ist die Endstation“, sagt der Sozialarbeiter. Die Menschen dort hätten noch weniger Platz zu leben als im Iduna-Hochhaus. Die größten Wohnungen seien gerade einmal 37 Quadratmeter groß. Es gebe dort auch eine viel höhere Mieter-Fluktuation. „Im Iduna-Hochhaus gibt es zumindest Wohnungen, wo Familien mit Kindern ein Mindestmaß an Platz haben, um zu leben.“

    Das erklärt die Polizei Göttingen

    So kommen die Gewaltausbrüche im Komplex Groner Landstraße für die Beobachter nicht aus heiterem Himmel, das Ausmaß nach der Corona-Anordnung der Stadt hat sie schon überrascht. Auch für die Polizeiinspektion (PI) Göttingen war der Einsatz keine Routineveranstaltung. Nach Angaben des Leiters der PI, Thomas Rath, waren am Samstag, am Höhepunkt der Ausschreitungen, etwa 300 Beamte im Einsatz. Diese seien aus dem gesamten Gebiet der Polizeidirektion Göttingen sowie aus den Reihen der Bereitschaftspolizei Hannover und Göttingen angefordert worden. Immer wieder müssten Polizisten seitdem das Grundstück betreten, auch um Mitarbeiter der Stadt, die dort weiterhin testen, zu unterstützen. Zu größeren Auseinandersetzungen wäre es aber nicht mehr gekommen. Die Lage sei aktuell ruhig.

    Auf die Frage, ob die Groner Landstraße schon vor dem Corona-Lockdown ein Schwerpunkt polizeilicher Ermittlungen gewesen sei, erklärt Rath: „In den genannten Örtlichkeiten kommt es durchaus immer wieder mal zu polizeilichen Maßnahmen. Ein Einsatz dieser Größenordnung ist allerdings in den letzten Jahren nicht dabei gewesen!“ Auch Janek Freyjer sagt: „Es ist in der Stadt kein Geheimnis, dass dort mindestens einmal in der Woche ein Krankenwagen oder ein anderes Einsatzfahrzeug vor der Tür steht.“

    So sieht der Wohnungsmarkt in der Uni-Stadt aus

    Genau wie Elternvertreter Freyjer sieht Sozialarbeiter Hölscher in der komplizierten Wohnungsmarktsituation Göttingens einen wesentlichen Grund dafür, dass diese räumlichen und sozialen Verrohungen unweit der City entstehen konnten. „In Göttingen leben 30.000 Studenten, bei einer Einwohnerzahl von rund 120.000. Das heißt: Es besteht eine große, natürliche Fluktuation am Wohnungsmarkt. Die Vermieter haben in den letzten Jahren auf Auszüge oft mit der Anhebung der Mieten reagiert und haben damit zu einer Isolation derjenigen beigetragen, die dieses Geld nicht besitzen“, sagt Hölscher. Mit der Flüchtlingskrise hätte es weiteren Bedarf an Wohnraum gegeben. Humangeograph Mießner bestätigte der dpa diese Einschätzung. Viele derjenigen, die heute in den Hochhäusern leben, hätten gar keine Chance gehabt, woanders unterzukommen, sagt Mießner, der jahrelang den angespannten Wohnungsmarkt in Göttingen wissenschaftlich untersucht hat. „Für einkommensschwache Gruppen, aber auch für Migranten ist wenig anderes übrig geblieben als dort zu wohnen.“

    Auch der Göttinger Bundestagsabgeordnete Jürgen Trittin (Grüne) hatte mit Blick auf die Situation in seiner Heimatstadt auf die besondere Wohnraumproblematik in vielen sozialen Brennpunkten verwiesen. Das Göttinger Beispiel und die Tatsache, dass es Infektionen gebe, die unter dem Radar der Behörden blieben, müssten eine Mahnung sein. Trittin appellierte an andere Städte mit ähnlichen Wohnsituationen, rasch in Kontakt zu den Hausverwaltungen zu treten und Tests zu veranlassen.

    Das meint ein Ex-Bewohner des Iduna-Zentrums

    Der Leipziger Fotograf Ingmar Björn Nolting hat sich für eine Porträtreihe zweieinhalb Jahre mit dem Iduna-Hochhaus beschäftigt. Er recherchierte vor Ort und lebte zwischen September 2018 und März 2019 auch ein halbes Jahr dort. Entstanden ist eine bemerkenswerte Fotoreportage, die Einblicke hinter die Fassade des Wohnkomplexes liefert. Über die, die dort leben, will Nolting am Telefon nichts sagen. Er sagt, er wolle die Porträtierten nicht in einem Atemzug mit den Corona-Ereignissen genannt wissen. Das hätten sie nicht verdient. Nolting sagt unserer Zeitung aber das: „Ich empfinde die Berichterstattung und auch die Kommunikation der Stadt Göttingen als schwierig. Es wurde immer nach Schuldigen gesucht, die es aus meiner Sicht so nicht gibt.“ Niemand sei schuld, dass er an diesem Virus erkranke.

    Auch Nolting spielt auf die Wohnsituation an. Enge Gänge, ungelüftete Hausflure, zwei Fahrstühle auf jeder Etage: Wer dort lebe, habe zwangsläufig Kontakt mit anderen Bewohnern. Dafür müsse man sich nicht einmal in Wohnungen treffen. Der Fotograf sagt: „Die Corona-Krise stellt auch in diesem Fall alles in ein gleißendes Licht, was schon lange vorher im Argen lag.“