Braunschweig. Unsere Zeitung lud Timon Dzienus von der Grünen Jugend Niedersachsens und Technikberater Volker Eyssen ein. Zwei Positionen prallten aufeinander.

Die Energiewende ist von der Mehrheit der Deutschen gewollt. Doch es hakt gewaltig. Zu teuer, der Ausbau der erneuerbaren Energien kommt nur im Schneckentempo voran. Unsere Zeitung lud zum Streitgespräch: Timon Dzienus, Sprecher der Grünen Jugend Niedersachsen, ist ein Verfechter der Energiewende. Volker Eyssen, Technikberater und ehemals stellvertretender Leiter des geplanten Atommüll-Endlagers Schacht Konrad, sieht die Energiewende kritisch. Andre Dolle moderierte die Debatte.

Klimaschutzaktivistin Greta Thunberg hat viele Menschen wachgerüttelt. Stehen wir am Abgrund, oder übertreibt sie?

Eyssen: Greta und Co. verbreiten Panik. Die daraus resultierenden Überlegungen und Entscheidungen sollten aber nicht unter dem Eindruck von Panik getroffen werden. Die Forderungen der „Fridays-for-Future“-Bewegung gehen ja grundsätzlich in die richtige Richtung. Wir müssen neuen Technologien gegenüber aber viel offener sein, müssen den Wirtschafts- und Forschungsstandort Deutschland stärken.

Dzienus: Wir stehen vor dem Abgrund und rennen immer weiter auf ihn zu. Da ist ein wenig Panik wohl unvermeidlich. Es ist aber beeindruckend, wie Hunderttausende von jungen Menschen sich weltweit für den Klimaschutz einsetzen. Wir wissen seit Jahrzehnten, dass sich die Folgen des Klimawandels massiv auf unser Leben auswirken werden. Es ist aber immer noch viel zu wenig passiert. Gegen Panik hilft nur Handeln – also schnellstmöglich radikaler Klimaschutz!

Die deutsche Antwort auf den Klimawandel ist die Energiewende: Abschied von Kernkraft und Kohle, dafür soll der Ökostrom-Anteil steigen. Ist das der richtige Ansatz?

Dzienus: Deutschland hat als Industrienation und wegen der wirtschaftlichen Möglichkeiten, die wir hier haben, die Chance, als globales Vorbild voranzugehen. Ziel muss sein: 100 Prozent Erneuerbare bis 2035. Durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz haben wir aber eine faktische Deckelung der Solarenergie und der Windkraft. Das bremst die Energiewende massiv.

Eyssen: Die kurzfristigen CO2-Ziele, die Sie nennen, werden in vielen Studien auf das Jahr 2050 taxiert – und dann oft nicht mit dem Ziel von 100 Prozent Erneuerbaren, sondern mit 80 bis 95 Prozent. Das bedeutet dann aber, dass viele Windräder bis an die Haustür heranreichen müssten. Denn so viel freie Fläche haben wir in Deutschland sonst gar nicht. Schon jetzt aber ist zu beobachten, dass die deutsche Wirtschaft mit ihren energieintensiven Produkten ins Ausland abwandert.

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Sie schütteln mit dem Kopf...

Dzienus: Wir haben doch das international bindende Pariser Klimaschutzabkommen unterzeichnet. Daran müssen wir uns auch halten. Und dafür müssen wir auch etwas tun. Klimaschutz ist notwendig. Ihn gibt es aber nicht zum Nulltarif. Die Energiewende kann aber auch Arbeitsplätze schaffen.

Dreht es sich bei der Energiewende auch um eine Generationenfrage?

Dzienus: Ein Stück weit schon. Wir sind die Generation, die vom Klimawandel schon viel stärker betroffen sein wird. Er rast auf uns zu.

Eyssen: Das Thema ist auch in meiner Generation grundsätzlich angekommen. Der Punkt ist aber doch: Wenn ich mir technische Studien auf der Basis von Physik – und nicht auf der Basis von Prosa – anschaue, dann sehe ich die Probleme, auf die wir zusteuern. Alleine mit Erneuerbaren werden wir es nie und nimmer richten können. Wir müssen ohne Denkverbote auch wieder über die nächste Generation von Kernkraftwerken nachdenken dürfen. Diese arbeiten komplett CO2-frei.

Laut Bundesrechnungshof hat die Energiewende in den vergangenen fünf Jahren 160 Milliarden Euro gekostet. Hätten Sie mit solch einem Batzen gerechnet?

Dzienus: Ja, da ist aber immer die Frage, welche Zahlen man sich anschaut. Deutschland rechnet sich die Atomkraft schön. Laut Greenpeace haben wir in Forschung, Ausbau und Endlagerung, wie bei Schacht Konrad, schon 206 Milliarden Euro verpulvert. Mindestens weitere 100 Milliarden kommen noch hinzu. Die Kosten tragen die Bürger. Hätte man das in die Energiewende gesteckt, wären wir nicht nur bei einem Anteil von 35 Prozent Erneuerbaren.

Wir sind schon bei 44 Prozent.

Eyssen: Aber nur beim Stromverbrauch. Da ist der Verkehr etwa nicht mit drin.

Dzienus: Wir wären aber schon viel weiter. Wir haben die falschen Prioritäten gesetzt.

Andererseits zahlt Deutschland etwa 120 Milliarden Euro pro Jahr für fossile Brennstoffe wie Öl an Länder wie Dubai. Die erneuerbaren Energien produzieren wir hingegen selbst. Ist das nicht vernünftiger?

Eyssen: Grundsätzlich ist das ein guter und interessanter Ansatz. Bei neuen Reaktoren würden wir aber auch voranschreiten, CO2-neutral Energie produzieren und würden andere Länder nicht alimentieren. Ich habe selbst Kinder und ein Enkelkind, denke an ihre Zukunft. Windräder verbrauchen riesige Flächen. Denken Sie dabei nur an den Artenschutz von Vögeln und Insekten, die sich in Rotoren verfangen.

Sie haben eine Führungsposition beim geplanten Endlager Schacht Konrad in Salzgitter aufgegeben. Warum jetzt wieder Kernkraft?

Eyssen: Ich bin weiterhin ein Kritiker der Endlagerung von Atommüll, wie sie in Deutschland praktiziert wird. Mit einer neuen Generation von Kernkraftwerken würden wir das Endlager-Problem aber in überschaubarer Zeit lösen.

Wie soll das gehen?

Eyssen: Ich rede vom sogenannten Dual Fluid Reaktor. Der Reaktor nutzt den Brennstoff besser aus als die meisten der heute in Betrieb befindlichen Anlagen, besitzt einen Kern, der nicht schmelzen oder gar explodieren kann und produziert keine radioaktiven Abfälle, die jahrtausendelang sicher gelagert werden müssen. Im Gegenteil, er verwertet die Abfälle sogar. Dabei wird der Brennstoff in Form eines Flüssigsalzes durch den Reaktor gepumpt. Durch Kernspaltung entsteht Wärme, die durch Kühlung mit Blei aus dem Reaktor abtransportiert wird, um außerhalb des kerntechnischen Teils genutzt zu werden, etwa zur Stromerzeugung. Der Reaktor ist so klein, dass ein Terrorangriff ausgeschlossen ist.

Man geht aber davon aus, dass alleine der Prototyp etwa zehn Milliarden Euro kosten würde.

Eyssen: Ein Prototyp ist immer um ein Vielfaches teurer als das Serienmodell. Das weiß auch VW. Ein solcher Reaktor in Leistungsgröße liegt bei einer Milliarde – das ist so viel wie bei einem Kohlekraftwerk. Sie müssen aber keinen Brennstoff mehr kaufen.

Was sagen Sie als Grüner zu diesen Gedankenspielen?

Dzienus: Ich muss es leider hart ausdrücken, aber wer heute noch an Atomkraft denkt, der hat den Schuss nicht gehört. Das wäre der absolut falsche Weg. Wir brauchen eine Ächtung der zivilen und militärischen Nutzung der Atomkraft.

Eyssen: Das ist jetzt aber eine Glaubensfrage.

Dzienus: Atomkraft ist keine Glaubensfrage, sondern eine Risikotechnologie. Wir dürfen Offenheit gegenüber Technik und Forschung nicht mit Technik-Gläubigkeit verwechseln. Bereits in den 60er und 70er Jahren sprach die Atomlobby von der risikofreien und sauberen Atomkraft. Technischer Fortschritt wird das Problem so einfach jedoch nicht lösen. Wir müssen anders wirtschaften, anders reisen und essen, um den Klimawandel zu stoppen. Wie lange brauchen wir für den Prototypen?

Eyssen: Atomlobby fasse ich als Beleidigung auf. Da gehöre ich definitiv nicht zu. Wenn wir es wirklich wollen, brauchen wir rund zehn Jahre.

Dzienus: Zehn Jahre, die im Kampf gegen den Klimawandel verloren gehen würden.

Vor diesen zehn Jahren dürfte es einen mindestens ebenso langen Zeitraum der politischen Entscheidungsfindung geben.

Eyssen: Hinter den politischen Kulissen läuft mehr, als man glauben mag. Das muss parallel zu den erneuerbaren Energien klappen.

Dzienus: In gut zehn Jahren müssen wir den CO2-Ausstoß bereits drastisch gesenkt haben. Wir haben keine Zeit, um auf den vermeintlichen Heilsbringer-Reaktor zu warten. Die Ressourcen wären in den Erneuerbaren besser angelegt.

Die AfD erwärmt sich auch für diese Art von Kernkraft. Das dürfte nicht gerade förderlich sein.

Eyssen: Es wäre schön gewesen, wenn eine andere Partei den Dual Fluid Reaktor im Bundestag ins Rennen geworfen hätte. Es darf aber nicht an der Parteipolitik scheitern. Die Physik und deren Gesetze müssen im Vordergrund stehen.

Zurück zur Energiewende. Diese hat den Ausstoß an klimaschädlichen Gasen bisher nicht wie gewünscht gebremst. Wir haben unsere Klimaziele verfehlt. Woran liegt das?

Eyssen: Die Erneuerbaren haben den Klimagas-Ausstoß ja gebremst. Ich überlege selber, ob Solarkollektoren auf meinem Dach sich finanziell rechnen. Ich selbst habe noch eine Restlaufzeit von 20 Jahren. In der Zeit hat das keinen Sinn mehr (er lacht). Es geht dabei nicht nur um mich, sondern auch um den Erntefaktor. Der gilt auch, wenn ich mir Kollektoren auf das Dach pflastere. Diese müssen eine Weile stehen, damit sich Bau, Betrieb und Entsorgung energetisch auszahlen. Dieser Erntefaktor sieht bei der Wind- und Sonnenenergie nicht sehr gut aus.

Das heißt?

Eyssen: Bei einem Talsperren-Wasserkraftwerk an der Oker liegt der Erntefaktor bei 35. Bei der Windenergie liegt nur eine 3 vor dem Komma, bei der Photovoltaik beträgt der Faktor nur 1,6. Wie lange sollen wir denn noch auf die Energiewende warten? Wir brauchen dringend andere Energiequellen, die uns Spielraum eröffnen. Hinzu kommt: In China werden die Kollektoren mit dreckigem Strom aus Kohlekraftwerken produziert, von den Arbeitsbedingungen dort ganz zu schweigen. Deutsche stellen sich die Kollektoren aufs Dach – im Glauben, Gutes für die Umwelt zu tun.

Dzienus: Das ist doch der Punkt. Wir waren in Deutschland lange Vorreiter bei der Solarbranche. Wir haben aber in den vergangenen zwei Jahren 35.000 Arbeitsplätze in der Windbranche zerstört und sogar 80.000 Arbeitsplätze in der Solarbranche. Wir waren mal Weltmarktführer, haben das aber komplett gegen die Wand gefahren. Das ist gerade für Niedersachsen als Windkraft-Standort fatal. Wir dürfen das Thema aber nicht nur auf die Wirtschaftlichkeit reduzieren.

Eyssen: Nein, das ist aber ein wichtiger Punkt. Wir hatten mal die meisten Patente weltweit. Wir haben nun ein Ziel: die Energiewende. Der Weg zum Ziel wird aber sehr eng gesteckt vorgegeben. Dieser Weg führt vom Abgrund in eine Sackgasse. Am Ende der Sackgasse steht eine Wand, auf die wir mit aller Macht zufahren.

Gleichzeitig wurden im Vergleich zu 1990 natürlich auch Fortschritte erzielt. So sind die Treibhausgasemissionen immerhin um 28 Prozent zurückgegangen.

Eyssen: In diese Bilanz wurden allerdings auch die Schlote abgerechnet, die vorher in der ehemaligen DDR gequalmt haben.

Die Bundesregierung diskutierte höhere Steuern auf Flugtickets, Abwrackprämien auf Ölheizungen und diverse andere Klimaschutz-Vorschläge. Was bringt das, wenn viele Verbraucher gleichzeitig auf einen SUV umsteigen?

Dzienus: Ich warne davor, die Probleme des Klimawandels zu individualisieren. Natürlich gibt es eine Verantwortung für Verbraucher, eigenes Verhalten klimaschonend zu verändern. Aber selbst wenn alle Bioprodukte und weniger Fleisch essen und seltener fliegen, werden wir das Klimaproblem nicht lösen. Wir müssen die Rahmenbedingungen anders setzen, anders wirtschaften.

Es gibt viele Baustellen bei der Energiewende. Eine ist die Wind-Flaute. In ganz Niedersachsen gab es im ersten Halbjahr 2019 nur sechs Windräder mehr. Ist der Boom schon zu Ende?

Dzienus: Er wird politisch verhindert. Das Problem ist also hausgemacht. Wir haben eine Ausschreibungspflicht, die Bürgerenergie-Projekte de facto verhindert. Es gibt Vertragsstrafen. Gerade kleinere Akteure würde solch eine Strafe hart treffen. Wir lassen ein riesiges Potential liegen. Warum führen wir eine Obergrenze für Windstrom pro Jahr ein? Wir dürfen die Windkraft nicht deckeln, wir müssen uns Ziele setzen. Wir könnten auch eine Solarpflicht bei Neubauten einführen. Oder bei öffentlichen Gebäuden. Auch dort schlummert ein riesiges Potential.

Eyssen: Der Deckel von politischer Seite bei der Windkraft wird flankiert durch Bürgerinitiativen, deren Mitglieder kein Windrad im Vorgarten stehen haben wollen. Das ist durchaus nachvollziehbar. Bei mir zu Hause in Salzgitter gibt es einen Windpark in etwa drei Kilometern Entfernung. Nachts höre ich diese Windräder über den Körperschall. Das sind Stoßwellen. Ich möchte solch ein Windrad nicht in meinem Schlafzimmer haben. Ganz leise zwar, aber ich höre es.

Der Ex-Grüne und ehemalige Bundesinnenminister Otto Schily ist mittlerweile zu einem erklärten Kritiker der Energiewende geworden. Er hat die sozialen Verwerfungen aufgezeigt, die diese mit sich bringen würden. Was sagen Sie dazu?

Eyssen: Wir haben in Europa die zweithöchsten Strompreise. Die Energiewende ist sündhaft teuer. 300.000 Menschen in Deutschland können ihre Stromrechnung nicht mehr bezahlen, sechs Millionen Bürger sind davon bedroht. Das spielt den Populisten, den Parteien von links und rechts außen, natürlich in die Karten.

Sehen Sie diesen Zusammenhang auch?

Dzienus: Das halte ich für sehr verkürzt. Bei der Atomkraft hatten wir massive Gewinne bei den Aktiengesellschaften, bei den Aktionären der Stromkonzerne. Ob es aber um die Folgekosten der Kernenergie oder um die Asse geht: Das zahlt alles der Steuerzahler, also auch der kleine Mann. Das wird immer beiseitegeschoben. Bei der EEG-Umlage geht es unter dem Strich nur um zwei Cent. Wenn man die Milliarden aus der Atomkraft auf den Strompreis umrechnet, sind das vier Cent.

Es hakt auch beim Ausbau der Stromnetze. Die Trassen will keiner haben. Warum schlägt die grundsätzliche Zustimmung zur Energiewende so schnell um, wenn es eine persönliche Betroffenheit gibt?

Dzienus: Es geht um die öffentliche Anerkennung. Da wünschte ich mir von der Politik ein viel größeres Bekenntnis. Das gilt übrigens auch für die Wirtschaft.

Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag beklagt ein „Schneckentempo“ bei der Energiewende, befürchtet einen Engpass bei der Versorgungssicherheit. Hat sich Deutschland übernommen?

Eyssen: Die Wirtschaft hat den Engpass längst schon. Unternehmen müssen mittlerweile mit einem Anruf von Stromversorgern rechnen. Da heißt es dann: Wir stellen in 15 Minuten euren Strom ab. Das passiert bei diversen großen Verbrauchern. Einzelne Betriebe sind mehr als 40 Mal pro Jahr betroffen.

Dzienus: Wir haben uns nicht übernommen, wir haben zu wenig unternommen. Deutschland könnte schon viel weiter sein: bei der Windkraft, der Solarenergie, den Speichern und beim Stromnetz. Jetzt gilt es, umso zügiger zu handeln.