Wolfsburg. Beim Bruttoinlandsprodukt gehen die Unterschiede noch weiter auseinander. Ein Sozialwissenschaftler warnt: Wir müssen gegensteuern!

Und jetzt überlegt mal, was passiert, wenn Wolfsburg und der Landkreis Helmstedt zusammen gelegt werden... Richtig!!! Das schreibt Thomas Jedermann auf unseren Facebookseiten. Zum Thema recherchierte Andre Dolle

Gleichwertige Lebensverhältnisse soll es in Deutschland geben. So steht es im Grundgesetz, Artikel 72. Eine Aufstellung des Landesamts für Statistik offenbart nun aber, dass die Unterschiede zwischen den 45 Landkreisen und kreisfreien Städten alleine innerhalb Niedersachsens schon groß sind.

Demnach liegt der Bruttojahreslohn in der VW-Stadt Wolfsburg mit 52.405 Euro mehr als doppelt so hoch wie beim Schlusslicht, der Stadt Delmenhorst. Dort betrug der Durchschnittsverdienst 2017 weniger als die Hälfte: 24.653 Euro.

In unserer Region ist der Landkreis Helmstedt das Schlusslicht. Wer hier arbeitet, verdient im Schnitt 28.243 Euro.

Noch weitaus größer ist der Unterschied zwischen den Landkreisen und Städten in Niedersachsen jedoch beim Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf. In Wolfsburg lag die Wertschöpfung pro Kopf im Jahr 2017 bei stattlichen 172.437 Euro. Das ist der absolute Top-Wert in Niedersachsen. Mit großem Abstand folgen bis Rang sechs – in dieser Reihenfolge – weitere VW-Standorte, an denen auch gut gezahlt beziehungsweise gewirtschaftet wird: die Städte Emden, Hannover, Salzgitter, Osnabrück und Braunschweig. In Wolfsburg liegt das BIP dabei 2,5 Mal so hoch wie beim zweitplatzierten Emden mit 69.000 Euro pro Kopf.

Top Bruttolöhne-01.jpg
© Jürgen Runo

In Salzgitter kommen neben VW Werke von Bosch, Alstom oder der Salzgitter AG hinzu. Hier liegt der Wert bei beachtlichen knapp 60.000 Euro pro Kopf. In Braunschweig sind es knapp 50.000 pro Kopf.

Verantwortliche aus Politik und Wirtschaft sprechen mit Blick auf unsere Region häufig vom „industriellen Herz Niedersachsens“. Das beweist die Aufstellung der Statistiker vom Landesamt in Niedersachsen eindrucksvoll.

Doch es gibt in unserer Region auch einige Ausreißer nach unten. Der Landkreis Helmstedt ist sogar das Schlusslicht in ganz Niedersachsen. Hier betrug das BIP pro Kopf 2017 gerade einmal 19.611 Euro. In der Stadt Wolfsburg waren es somit fast neunmal so viel.

Auch in den Landkreisen Wolfenbüttel, Peine und Gifhorn sieht es nicht gerade rosig aus, was das BIP betrifft.Alle drei Landkreise befinden sich auf den hinteren Plätzen in Niedersachsen. Unter 22.000 Euro pro Kopf liegt in Niedersachsen sonst nur noch der Landkreis Osterholz. Er reiht sich somit zwischen die genannten vier Landkreise aus unserer Region unter die letzten fünf in Niedersachsen.

Viel Licht und viel Schatten also. In unserer Region spiegelt sich im Kleinen wieder, was nun intensiver in der Bundespolitik für ganz Deutschland diskutiert wird. Erst vor wenigen Wochen stellte Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) zusammen mit einigen Kabinettskollegen Ergebnisse der Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ vor. Auf den Punkt gebracht soll nun Schluss mit dem Prinzip Gießkanne sein. Statt nach Himmelsrichtung sollen Fördergelder künftig viel stärker nach der Bedürftigkeit verteilt werden.

Das ist auch im Sinne des bekannten Sozialwissenschaftlers Professor Stefan Sell aus Koblenz. Er erkennt sich selbst verstärkende Prozesse, die „eine Scherenbildung befördern“. Er warnt: „Wenn wir nicht gegensteuern, haben wir ein riesiges Problem. Dort die Arbeitsplätze in den Ballungszentren in Verbindung mit explodierenden Mieten, auf der anderen Seite sterben ganze Landstriche aus.“

Bruttoinlandsprodukt Niedersachsen-01.jpg
© Jürgen Runo

Die Zahlen des Landesamts für Statistik in Niedersachsen reflektieren laut Sell „die alte Bundesrepublik und ihre Industriestandorte mit sehr guter Vergütung“. Es sei der Politik noch nicht gelungen, für einen Ausgleich in strukturschwachen Landkreisen zu sorgen. Die sich selbst verstärkenden Prozesse erkennt Sell auch in der Tarifbindung. „Die großen Industriestandorte haben oft eine Nähe zu den Gewerkschaften. Das sorgt wiederum für die hohe Tarifbindung und hohen Löhnen.“

Nach Ansicht des Landesbeauftragte für unsere Region, Matthias Wunderling-Weilbier (SPD), strahlen die industriellen Oberzentren Wolfsburg, Braunschweig und auch Salzgitter in die Fläche aus. Wunderling-Weilbier war mal Landrat im Kreis Helmstedt.

Er sagt: „Damals haben mehr als 12.000 Menschen aus dem Landkreis bei VW gearbeitet – viele von ihnen in Wolfsburg.“

Doch Wunderling-Weilbier gibt zu: „An der Peripherie fällt es in der Region deutlich ab.“ Die Landesregierung habe deshalb unter anderem das Südniedersachsenprogramm gestartet, um gezielt zu fördern. Es umfasste 100 Millionen Euro.

Ein Betrag in ähnlicher Größenordnung fließt vom Bund in das ehemalige Helmstedter Braunkohlerevier, das hart vom Strukturwandel getroffen ist. Weitere 70 Millionen Euro flossen vom Land bereits als Entschuldungshilfe in den Landkreis. Wunderling-Weilbier sagt schonungslos: „Wir werden nicht mehr allen Leuten versprechen können, dass es überall gut bezahlte Jobs in der Industrie gibt.“

Es komme um so mehr darauf an, dass es auch in den Landkreisen der Region gute Einkaufsmöglichkeiten, Kitas, Schulen, Ärzte und einen gut angebundenen öffentlichen Nahverkehr gebe. Gleiches gelte für den neuen Mobilfunkstandard 5G und ein flächendeckendes Glasfasernetz für das schnelle Internet.

Wunderling-Weilbier sagt: „Dann ziehen Planungsbüros aufgrund der hohen Immobilienpreise in Braunschweig oder Wolfsburg vielleicht künftig lieber in den Landkreis Helmstedt oder in den Landkreis Wolfenbüttel.“

Nicht umhin kommt man aufgrund der großen Unterschiede zwischen Wolfsburg und den Nachbarn aus dem Kreis Helmstedt um die Diskussion zur Fusion der beiden. Die Zahlen der Statistiker zeigen eindrucksvoll, wie nötig so eine Fusion wäre. Die Stadt Wolfsburg braucht dringend Platz für Gewerbe und für Wohnungen. Sie hat im Gegenzug die nötige Stärke, um den Landkreis Helmstedt mitzuziehen.

Und tatsächlich will die Stadt Wolfsburg die jahrelang auf Eis gelegten Fusionsgespräche mit dem Landkreis Helmstedt offiziell wieder aufnehmen. Wolfsburgs Oberbürgermeister Klaus Mohrs (SPD) will sich dafür nach der Sommerpause die Erlaubnis der Fraktionen des Rates der Stadt einholen.

Mohrs’ Initiative ist eine Reaktion auf einen Beschluss des Helmstedter Kreistags von Anfang Juni. Der Kreistag hat Landrat Gerhard Radeck (CDU) damit beauftragt, eine Fusion mit Wolfsburg auszuloten. Der Landesbeauftragte Wunderling-Weilbier begrüßte die Initiativen aus Helmstedt und Wolfsburg bereits ausdrücklich.

Die Fusion könnte einige Ungleichheiten in unserer Region bereinigen. Noch ist es aber längst nicht so weit.