Braunschweig. Der Ehrenvorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter kritisiert in einem Leserbrief Niedersachsens Innenminister. Hier unser Faktencheck:

Der langjährige Vorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK) in Niedersachsen, Ulf Küch, hat sich in einem Leserbrief an unsere Zeitung Luft gemacht. Für ihn sei die „ritualhafte Schaufensterpolitik“, die die niedersächsische Landespolitik auf dem Feld der Kriminalitätsbekämpfung seit Jahren an den Tag legt, mittlerweile unerträglich.

Anlass seines Wutausbruchs war die Ankündigung des Innenministeriums in Hannover, mit neuen Maßnahmen gezielter gegen die Organisierte Kriminalität (OK) vorgehen zu wollen. In der Ausgabe vom 14. August hatte unsere Zeitung unter der Überschrift „Kriminelle Clans machen Niedersachsen zu schaffen“ darüber berichtet. „Da wird immer groß etwas angekündigt, aber dann kommt in der Regel nichts, was von Substanz ist und den Beamten im Alltag hilft“, erklärte Küch auf Nachfrage. Nach seiner Meinung besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen verfehlter Finanz-, Personal- und Ausbildungspolitik bei der Polizei und dem Erstarken beispielsweise von Clanstrukturen, deren Zerschlagung sich Innenminister Boris Pistorius (SPD) nun auf die Fahnen geschrieben hat. So zumindest muss man den Leserbrief verstehen. Den Brief von Küch lesen Sie im nebenstehenden Kasten. Die zentralen Thesen haben wir einem Faktencheck unterzogen.

Küch betont, den Leserbrief als Gewerkschafter geschrieben zu haben. Es ist eine bittere Bilanz, die er in seiner Zusammenarbeit mit der Landespolitik zieht. Im nächsten Jahr geht Ulf Küch in den Ruhestand.

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Ulf Küchs Leserbrief:

„Wenn es nicht so traurig wäre, müsste man schallend lachen. Herr Minister haben festgestellt, dass es OK gibt und wird aktiv. Mittlerweile fühle ich mich persönlich veralbert. Seit 1992 ist spätestens bekannt, dass die Organisierte Kriminalität in unserem Staat auf Beutezug ist. Zur Abwehr wurde in Niedersachsen durch die damalige Landesregierung die Kriminalpolizei abgeschafft, deren Ausbildung eingestampft und Kriminalistinnen und Kriminalisten einer „Einheitsgehirnwäsche“ unterzogen. Jetzt bricht seit Jahren die Kriminalitätsbekämpfung bei komplexen und schweren Delikten ein, da kaum noch Fachleute zur Verfügung stehen. Die Ausbildung an der Akademie ist so löchrig (mehr als 10 Prozent fallen regelmäßig durch), dass noch nicht einmal mehr der Umgang mit unserem Vorgangserfassungssystem geübt wird. Mittlerweile wird der Sachmittelhaushalt eingedampft. In einigen Dienststellen werden noch nicht einmal mehr Kleinstreparaturen durchgeführt. Die Besoldung in Niedersachsen ist mit am hinteren Ende der bundesdeutschen Länderpolizeien. Die Zielstärken mancher Dienststellen liegen mitunter noch nicht einmal bei 80 Prozent. Die zentralen Kriminaldienste und die Kriminalermittlungsdienste sterben altersbedingt aus, da weder kundiges Personal nachgeführt werden noch kundiges Personal vorhanden ist. Und jetzt eine Offensive gegen die OK und kriminelle Clans? In Salzgitter und anderswo regeln diese Clans ihre Dinge untereinander und drängen die Polizei heraus. Alles ist seit über 20 Jahren bekannt und wurde von der Politik ignoriert. Ich habe sowohl Herrn Schünemann als auch Herrn Pistorius als damaliger BDK- Landesvorsitzender und auch in meiner Eigenschaft als Kripochef in Braunschweig jahrelang aufgefordert, diese gefährlichen Unterlassungen aufzugeben. Geschehen ist außer kraftvollen Worten oder schlichten Abwiegeleien nicht viel!! Leider wird die AfD so künstlich noch größer gemacht. Ich gebe es bald auf!!!“

Leserbriefe spiegeln die Meinung des Verfassers wider. Aussagen müssen aber von der Redaktion hinsichtlich ihres Wahrheitsgehaltes überprüft werden. Küchs Leserbrief paart Meinungsäußerungen mit Tatsachenbehauptungen. So sind Äußerung wie „seit 1992 ist die Organisierte Kriminalität auf dem Beutezug“ oder „In Salzgitter und anderswo regeln Clans ihre Dinge untereinander und drängen die Polizei raus“ vom Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt. Bei anderen Aussagen suggeriert der BDK-Mann, dass es sich um Fakten handelt. Wir haben den Adressaten der Generalkritik, das niedersächsische Innenministerium, gebeten, sich der zentralen Aussagen anzunehmen und Stellung zu beziehen.

Der Vorwurf: Zehn Prozent der Anwärter auf eine Laufbahn bei der Polizei in Niedersachsen fallen regelmäßig durch...

Küchs Beispiel ist der Einstellungsjahrgang 2014. Damals fingen laut Braunschweigs Kripochef 668 Anwärter ihr Studium in den niedersächsischen Akademien an, 559 beendeten im Jahr 2017 ihre Ausbildung. Stimmen die Zahlen, brachen gut 16 Prozent das Studium ab oder fielen durch. Das Innenministerium errechnet einen Anteil an Durchfallern bzw. Abbrechern von 12,8 Prozent. Andere Zahlen des Innenministeriums ergeben ein differenzierteres Bild. Von „regelmäßig“ kann aus Sicht der Behörde nicht die Rede sein. Sie kommt für die Einstellungsjahrgänge 2015 bis 2017 auf Abbrecherwerte, die zwischen 8,1 Prozent und 3,6 Prozent liegen. Knackpunkt hier ist allerdings, dass die Anwärter sich aktuell noch in der Ausbildung befinden. Wie viele am Ende ihren Abschluss machen, kann das Ministerium heute noch nicht sagen.

Ergebnis: Küch hat zumindest teilweise Recht.

Der Vorwurf: Die Ausbildung der Anwärter ist löchrig. So wird nicht einmal der Umgang mit dem polizeilichen Vorgangserfassungssystem geübt...

Das System der Vorgangserfassung heißt Nivadis. Küch beruft sich auf Anleiter der Braunschweiger Polizei, die ihm versichert hätten, dass seit 2017 fast ausschließlich in den Dienststellen angeleitet werde. Das sei „zeitaufwendig und mühsam“. Hier räche sich die sehr „nachlässige Schulungspraktik“ während der Ausbildung der Anwärter, so Küch.

Das Innenministerium erklärt, dass sowohl in der Aus-, als auch in der Weiterbildung das System erlernt werde. Die Dienststellen schulten nach, wenn es zu Neuerungen komme. „Kenntnisse und Fähigkeiten im Umgang und zur Beherrschung des Vorgangsbearbeitungssystems sind integrale Bestandteile des dreijährigen Bachelorstudiengangs an der Polizeiakademie Niedersachsen“, schreibt das Ministerium. Auf den Dienststellen würden die Kenntnisse anhand von „Echtfällen“ vertieft.

Ergebnis: Küchs Kritik wirkt zu pauschal.

Der Vorwurf: Es fehlt an Sachmitteln. Kleinstreparaturen auf Dienststellen werden nicht mehr gemacht...

Aus dem Ministerium heißt es zu dem Vorwurf: „Die Polizei des Landes Niedersachsen verfügt über eine umfangreiche und moderne Ausstattung. Diese wird – auch in Zusammenarbeit mit den Polizeien anderer Länder und des Bundes – fortlaufend weiterentwickelt, dem jeweiligen Stand der Technik angepasst und ständig optimiert. Ausstattungsgrenzen werden durch den Rahmen der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel gesetzt (...) Darüber hinaus werden aktuelle, kurzfristige Bedarfe bei Bekanntwerden priorisiert und dementsprechend abgearbeitet. Das geschieht im Rahmen der Budgethoheit durch die Polizeibehörden selbst sowie im Hinblick auf die Ausstattung der Polizei aus zentralen Mitteln des Innenressorts bzw. bei baulichen Bedarfen ggf. über die Staatl. Bauverwaltung.“ Soweit so gut.

So schlecht, würde Ulf Küch vermutlich sagen: Ein internes Schreiben, das in der Polizeidirektion Braunschweig kursiert und unserer Zeitung vorliegt, zeigt, dass der Mangel eher verwaltet wird als behoben werden kann. Die vorzeitige Pensionierung des einzig verbliebenen und für die „Malerarbeiten“ zuständigen Fachhandwerkers hat Konsequenzen. Es werde, so heißt es in dem Schreiben, keinen personellen Ersatz geben. Und weiter: „Insoweit werden bis auf weiteres diese Arbeiten grundsätzlich nicht mehr ausgeführt werden können. Haushaltsmittel für die Beauftragung privater Firmen stehen zudem nicht zur Verfügung.“

Die mitgliederstärkste Polizei-Gewerkschaft, die GdP, lobt zwar die Landesregierung für ihr Bemühen, beispielsweise die Schutzausrüstung für die Polizisten zu verbessern. Ihr Landeschef Dietmar Schilff sagt aber auch: „Die GdP sieht durchaus bei mehreren Polizei-Gebäuden einen Investitionsstau. Uns ist wichtig, dass notwendige Baumaßnahmen nicht hinausgezögert werden und die Maßnahmen zeitnah eingeplant werden.“

Ergebnis: Küch hat einen wunden Punkt berührt.

Der Vorwurf: Die Höhe der Besoldung erschwert die Suche nach geeigneten Bewerbern. Niedersachsen liegt mit am Ende der bundesdeutschen Länderpolizeien...

Hier gibt es den geringsten Dissens. In den Besoldungsranglisten belegt Niedersachsen in den personalstärksten Besoldungsgruppen einen Platz, der näher am Tabellenkeller als im gesicherten Mittelfeld liegt. Das belegt auch der Besoldungsatlas, den der deutsche Gewerkschaftsbund jährlich herausgibt. In der Annahme einer 40-Stunden-Woche in Euro liegt Niedersachsen in der Jahresbruttobesoldung der Gruppe A 9 auf Platz 14. Bei der Besoldungsgruppe A 13 auf Platz 10 von 17 (16 Länder plus die Bundespolizei). Laut Küch werden allerdings nicht einmal drei Prozent aller Polizeibeamten in Niedersachsen in der letztgenannten Gruppe besoldet. Zwei Drittel aller Beamten, etwa 13 500 Personen, arbeiten in den Besoldungsgruppen A 9 und A 10. Bei der Entlohnung ihrer Beamten ganz vorne: Bayern, gefolgt von Sachsen. Auf das Jahr gerechnet verdient ein bayrischer Beamter bei einer A-9-Besoldung mit knapp 43 500 Euro Jahresbrutto gut 3000 Euro mehr als ein Polizist, der in Niedersachsen arbeitet.

Die Pistorius-Behörde widerspricht hier nicht. „Als Ergebnis der letzten Erhebung belegte Niedersachsen im Bund-Länder-Ranking Platzierungen im Bereich von 11 bis 14.“ Als Erklärung gibt sie an: „Dies ist in erster Linie auf den weitgehenden Wegfall jährlicher Sonderzahlungen (sog. Weihnachtsgeld) zurückzuführen.“

Für GdP-Chef Schilff ist dieser Zustand nicht länger hinnehmbar. „Unsere Arbeit ist als Gewerkschaft von zwei Grundsätzen geleitet. Wir wollen, das unser Land sicher ist und bleibt. Und wir wollen, dass unsere Beamten für die Anstrengungen, die sie täglich leisten, entsprechend entlohnt werden.“ Es gehe um mehr Gerechtigkeit bei der Grundbesoldung. Die GdP fordert eine Bezahlung ab A 11 für alle Polizeivollzugsbeamten, also für diejenigen, die im Einsatz- und Streifendienst tätig sind. Und sie fordert die Wiederaufnahme des seit 2005 ausgesetzten Weihnachtsgeldes. Die Chance, dass aktuelle Gespräche über die Wiedereinführung von Sonderzahlungen wie dem Weihnachtsgeld erfolgreich sein werden, schätzt Küch mit „null Prozent“ ein. Die GdP wertet die Gespräche als positives Zeichen.

Ergebnis: Küch hat Recht, die Besoldungszahlen sprechen für sich.

Der Vorwurf: Die Zielstärke in Dienststellen liegt mitunter nicht einmal bei 80 Prozent...

Das Innenministerium widerspricht hier energisch. Es spricht von einem „historischen Beschäftigungshöchststand“ bei der Polizei in Niedersachsen und von 26 000 Mitarbeitern. Mehr als 1000 zusätzliche Stellen wurden bewilligt, geschaffen müssen sie noch werden. Küch gibt zu: „Die zusätzlichen Stellen sollen kommen. Das Land tut was. Es hat zumindest keinen Stellenabbau gegeben.“

Fraglich ist allerdings, ob der angekündigte Stellenzuwachs die anstehende Pensionierungswelle der einstellungsstarken Jahrgänge 1956 bis 1963 kompensieren kann. Der BDK rechnet mit etwa 5500 Polizisten in Niedersachsen, die in den nächsten Jahren pensioniert werden. Küch nennt den vom Ministerium ausgerufenen „Beschäftigungsrekord“ eine „Milchmädchenrechnung“. Was heißt das? Die Mittel, die den Polizeibehörden in Niedersachsen zur Verfügung stehen, bestimmt die Politik. Die Haushaltspläne der Jahre 2010 bis 2016 belegen, dass die Zahl der finanzierten Planstellen stabil bei etwa 18 500 Stellen liegt. Es handelt sich um Vollzeitstellen.

Wie kommt das Ministerium nun also auf die Zahl 26 000? Sie rechnet alle Mitarbeiterstellen ein, auch die beispielsweise in der Verwaltung. Das ist legitim. Sie schönt ihre Statistik aber auch ein wenig, denn in der Praxis kommt es vor, dass aus einer Vollzeitstelle mehrere Teilzeitstellen werden. Damit steigt die Zahl der Mitarbeiter.

Ergebnis: Beide Seiten, Ministerium und BDK, machen ihre eigene Rechnung, so wie es ihnen am besten in den Kram passt.