Haben die Verantwortlichen in Firmen, die den Mindestlohn unterlaufen, auch mit persönlichen Konsequenzen zu rechnen?

Das fragt unser Leser
Hartmut Hansen

Die Antwort recherchierte
Andre Dolle

Braunschweig. Das Hauptzollamt Braunschweig ermittelt derzeit gegen ein Technikunternehmen aus unserer Region: Es hat offenbar Studenten angeworben, die in den Bereichen Forschung und Entwicklung eingesetzt wurden. Offiziell galten die Studenten als Praktikanten. 40 Stunden pro Woche haben sie gearbeitet, 400 Euro pro Monat haben sie dafür bekommen.

Im vorliegenden Fall bemerkte der Zoll bei der Überprüfung der Praktika, dass diese länger als die erlaubten drei Monate dauerten und anscheinend auch nicht in allen Fällen verpflichtende Praktika waren. Andreas Löhde, Sprecher des Hauptzollamts Braunschweig, sagt: „Den Studenten hätte darum nach unserer Auffassung der Mindestlohn zugestanden.“ Die Differenz zwischen gezahlten und vermutlich geschuldetem Lohn betrug von Fall zu Fall zwischen 1100 Euro und 3700 Euro. „Für einen Studenten viel Geld“, sagt Löhde.

Schummeleien bei der Erfassung von Arbeitszeiten, Bezahlung unter dem gesetzlichen Mindestlohn von 8,84 Euro und nicht gezahlte Sozialbeiträge: Auch dreieinhalb Jahre nach Einführung des Mindestlohns in Deutschland tricksen Unternehmen. Exakt 2581 Verstöße gegen das Mindestlohngesetz hat der Zoll in Niedersachsen bei Kontrollen im vergangenen Jahr aufgedeckt. Das geht aus einer Antwort des Bundesfinanzministeriums auf eine Anfrage des Wolfenbütteler Bundestagsabgeordneten Victor Perli (Die Linke) hervor.

Seit 2004 gibt es beim Zoll die Finanzkontrolle Schwarzarbeit. In Niedersachsen organisieren die etwa 5000 Mitarbeiter der vier Hauptzollämter in Braunschweig, Hannover, Oldenburg und Osnabrück Kontrollen.

Die nachgewiesenen Verstöße gegen das Mindestlohngesetz sind offenbar nur die Spitze des Eisbergs. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) geht sogar davon aus, dass es in Niedersachsen 212 000 Fälle gibt, in denen der gesetzliche Mindestlohn von den Arbeitgebern nicht ausgezahlt wird. Niedersachsen liegt mit 8,9 Prozent Betroffenen weit über dem Bundesschnitt von 7,3 Prozent.

Auch die Gewerkschaft Verdi, Landesbezirk Niedersachsen-Bremen, fordert eine Einhaltung des Mindestlohns. Sprecher Matthias Büschking sagt: „Schon der jetzt festgelegte gesetzliche Mindestlohn sichert allenfalls ein Mindestmaß an Geld und Würde. Und dennoch wird er regelmäßig unterlaufen.“ Tricksereien wie Pauschalzahlungen oder Abrechnung über Spesen wie in der Speditionsbranche, der Entfall von Zuschlägen oder Neuzuschnitte bei der Arbeitszeit seien an der Tagesordnung. Sie würden dafür sorgen, dass die Beschäftigten keinen Cent mehr bekommen als vorher.

Nicht nur die Gewerkschaften, auch die Arbeitgeberverbände wünschen sich ein härteres Durchgreifen gegen schwarze Schafe. Florian Bernschneider, Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbands Region Braunschweig, sagt: „Es kann nicht sein, dass unsere Mitglieder den Mindestlohn zahlen und andere nicht.“ Bernschneider sieht die Wettbewerbsfähigkeit gefährdet.

Das sieht auch Volker Müller, Hauptgeschäftsführer der Unternehmerverbände Niedersachsen, so. „In der Baubranche ist der Wettbewerb extrem. Das ist auch im Hotel- und Gaststättengewerbe und in der Speditionsbranche so.“ Man könne ja zum Mindestlohn stehen, wie man mag, so Müller. „Es darf aber nicht sein, dass sich einzelne Firmen einen Vorteil verschaffen. Wenn, dann müssen sich alle daran halten. Es ist auch in unserem Interesse, dass das verfolgt wird.“

Bernschneider und auch Müller reden von einzelnen schwarzen Schafen. Laut Bernschneider sei gerade in unserer finanzstarken Region der Fachkräftemangel ein viel größeres Problem. Die hiesigen Arbeitgeber könnten es sich seiner Ansicht nach im Wettbewerb um Arbeitskräfte gar nicht mehr erlauben, den gesetzlichen Mindestlohn nicht zu zahlen.

Dass dies doch so ist, zeigt Pressesprecher Löhde vom Hauptzollamt Braunschweig mit einem weiteren von vielen Beispielen. Dieses Mal aus dem Bereich Speditionen. Löhde sagt: „Vor einiger Zeit meldete sich ein Lastwagenfahrer bei uns, der eigentlich einen monatlichen Lohn über dem Mindestlohnniveau erhielt. Allerdings rechnete sein Arbeitgeber als Arbeitszeit nur die Zeit ab, die der Lastwagen tatsächlich bewegt wurde.“ Gesetzlich stehe dem Arbeitnehmer aber schon dann Lohn zu, wenn er sich für den Arbeitgeber zur Arbeit bereithält. „Also hätten auch die Zeiten für das Be- und Entladen des Fahrzeugs bezahlt werden müssen. Da dies anscheinend nicht geschah, besteht der Verdacht, dass durchschnittlich kein Mindestlohn gezahlt wurde“, sagt Löhde.

Laut Müller von den Unternehmerverbänden Niedersachsen sei der Großteil der 400 000 Betriebe im Bundesland redlich, was den Mindestlohn betrifft. Er sagt: „Ich kenne keinen einzigen der Fälle.“

Büschking von der Gewerkschaft Verdi fordert: „Missbrauch gehört rasch und angemessen bestraft. Der Zoll muss mit ausreichend Personal ausgestattet werden, um ihn effektiv zu unterbinden.“ Weil das bislang aber nicht der Fall sei, blieben nur Stichproben statt flächendeckender Kontrollen.

Bei der Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) des Zolls, die auch für die Einhaltung des Mindestlohns zuständig ist, sind derzeit 6429 von 7211 Stellen besetzt. Der Bund hat 1600 neue Stellen zugesagt, die bis 2022 besetzt werden sollen. Die FKS soll auf insgesamt 8500 Stellen wachsen.

Der Abgeordnete Perli, der für die Linke im Haushaltsausschuss des Bundestags sitzt, zweifelt, „dass selbst die niedrig gesteckten Ziele“ erfüllt werden können. „Das gegenwärtige Saldo bei der FKS beträgt fast 800 Stellen, 2018 und 2019 kommen aber jeweils nur etwas mehr als 200 neue Absolventen dazu.“ Bei tendenziell steigenden Abgängen durch Pensionierung könnten gerade mal die derzeit vakanten Posten besetzt werden. Perlis Prognose lautet: „1600 oder mehr neue Stellen zu besetzen, ist völlig unmöglich.“

Viele Verstöße gegen das Mindestlohngesetz werden wohl auch weiterhin nicht geahndet. Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) hat in der Region genau hingeschaut. Laut Geschäftsführer Manfred Tessmann hat das Hauptzollamt Braunschweig 2017 in der Branche 222 Betriebe geprüft. „Dabei gibt es allein in der Stadt Braunschweig 447 Hotels, Gaststätten und Restaurants.“

Aufgrund der geringen Kontrolldichte müssen Unternehmen, die gegen das Mindestlohngesetz verstoßen, kaum mit Konsequenzen rechnen. Im vergangenen Jahr wurden gegen diese Unternehmen im Bereich des Hauptzollamts Braunschweig insgesamt Bußgelder in Höhe von 264 000 Euro verhängt. So viel zu unserer Leserfrage. Die Verantwortlichen in den Firmen haften auch nicht persönlich.

Olaf Wietschorke, Vorsitzender des Bezirksverbands Hannover in der Deutschen Zoll- und Finanzgewerkschaft, erklärt, worin die Schwierigkeiten liegen. Der Bezirksverband ist für die Bundesländer Niedersachsen, Bremen und Sachsen-Anhalt zuständig. Wietschorke meint: „Wir könnten deutlich mehr machen, wenn der Zoll voll besetzt wäre.“ Der Zoll versuche bereits, Mitarbeiter aus anderen Behörden abzuziehen.

Am liebsten möchte der Zoll an die „dicken Fische“ mit mehreren Hundert Mitarbeitern und Dutzenden von Verstößen gegen das Mindestlohngesetz, sagt Wietschorke. Jedoch dauern die Prüfungen, weiß er, gerade, was größere Betriebe betreffe. Wietschorke berichtet von LKW-Ladungen voller Akten ­– für ein Großunternehmen. „Wer den Mindestlohn prellt, arbeitet oft mit Verstrickungen und Verschleierungen, mit Subunternehmen, oft auch im osteuropäischen Ausland.“ Da sei alleine die Sprache schon eine große Barriere.

In einem besonders großen Fall hat der Zoll nach Informationen unserer Zeitung sämtliche Taxi-Unternehmen in Osnabrück geprüft. 1500 Zoll-Beamte aus ganz Deutschland beschlagnahmten auf einen Schlag Akten. Es dauerte ein paar Jahre, bis diese von den Zollbeamten in Niedersachsen endlich ausgewertet waren.

Für NGG-Geschäftsführer Tessmann ist das Mindestlohngesetz aber kein Papiertiger. „Es sichert trotz aller Probleme auch in unserer Region Tausenden von Beschäftigten ein Existenzminimum.“

Anfang kommenden Jahres steht die nächste Erhöhung des Mindestlohns an. Die Gewerkschaften plädieren für ein deutliches Plus. Tessmann fordert: „Aus den 8,84 Euro muss rasch etwas Zweistelliges werden.“ Auf den Zoll dürfte in diesem Fall weitere Arbeit zukommen. Es bleibt abzuwarten, ob die Große Koalition den angekündigten Stellenzuwachs ermöglicht.