Braunschweig. Vor 50 Jahren feuerte Josef Bachmann drei Kugeln auf Studentenführer Rudi Dutschke ab. Sie beschleunigten die 68er-Bewegung.

Unsere Leserin Monika Schmückner fragt auf unseren Facbookseiten:

Wen interessiert das? Haben wir 2018 nicht genug Verbrechen?

Die Antwort recherchierte Andre Dolle

Es handelt sich nicht um irgendein Verbrechen, wie die Frage unserer Leserin andeutet. Es war eine Zäsur: Dreimal drückte Josef Bachmann ab. Der Peiner wollte am 11. April 1968 den verhassten Rudi Dutschke, Symbolfigur der Studentenbewegung, auslöschen. Bachmann war ein irregeleiteter Hilfsarbeiter mit Kontakten zur Neonazi-Szene. Zeitgenössische Kommentatoren beschrieben Bachmann als „ein Nichts“. Und doch löste er die größten innenpolitischen Unruhen aus, die die Bundesrepublik bis dahin erlebt hatte.

Die Stimmung

In der Bundesrepublik regierte damals eine Große Koalition, Union und SPD verfügten über rund 90 Prozent der Sitze im Bundestag. Bundeskanzler war Kurt Georg Kiesinger (CDU), ein ehemaliges NSDAP-Mitglied. Abtreibung und Homosexualität waren strafbar. Gerichte bestraften nach dem „Kuppelparagrafen“ Eltern, die ihren Kindern Liebesbeziehungen nicht verboten: Der Staat galt als Anstalt zur Beförderung der Moral, das Strafgesetzbuch als Sittenkodex und der Strafrichter als Sittenrichter. Systematische sexuelle Aufklärung hatte an Schulen bis dahin kaum stattgefunden, 1968 gab die Kultusministerkonferenz erstmals „Empfehlungen zur Sexualerziehung“.

Die Studentenbewegung und die Außerparlamentarische Opposition (Apo), deren Anhänger oft identisch waren, lehnten sich gegen diese verkrusteten gesellschaftlichen Strukturen auf, forderten mehr Demokratie im Staat und an den Universitäten.

Die Bewegung wirbelte die Gesellschaft durcheinander – das geschah nicht immer friedlich. Der politische Protest radikalisierte sich. Am 2. April 1968 verübten Linksradikale Brandanschläge in zwei Kaufhäusern in Frankfurt. Sie legten Brandsätze. In beiden Häusern entstand Sachschaden. Zu den schnell ermittelten Tätern gehörten die späteren RAF-Mitglieder Gudrun Ensslin und Andreas Baader.

Die Tat

Rudi Dutschke war die zentrale Figur der Bewegung. Kaum ein Name steht in Deutschland so für „1968“ wie er. Dutschke wurde bewundert wie angefeindet. Für den irregeleiteten Peiner Josef Bachmann war der linke Revoluzzer eine Hassfigur.

Am 11. April war Dutschke auf dem Kurfürstendamm in seiner Heimatstadt Berlin mit dem Fahrrad unterwegs und wollte in einer Apotheke Nasentropfen für seinen kleinen Sohn, Hosea-Che, holen. Bachmann fuhr an diesem Tag nach Berlin und spürte den Studentenführer auf, sprach ihn auf der Straße an: „Sind Sie Rudi Dutschke?“ Der sagte: „Ja.“ Da zog Bachmann den Revolver, verletzte Dutschke lebensgefährlich. Laut Augenzeugen soll der Attentäter „Du dreckiges Kommunistenschwein!“ gerufen haben, bevor er Dutschke niederschoss.

Der Täter

Nach dem Attentat gab es eine Reihe von verwunderten Kommentaren, Man konnte kaum glauben, dass so einer zu einer Tat wie den Schüssen auf Dutschke fähig war. Ein Reporter des „Spiegel“ schrieb während der Gerichtsverhandlungen im März 1969 über den Attentäter Bachmann: „Der erste Eindruck: ein Wicht, ein Kerlchen. Die kleingewachsene, schmale, fast dürftige Figur steckt in einem modisch geschnittenen, dunkelblauen Anzug mit Weste. (...) Doch was man auch mit ihm anstellte, oder er selbst mit sich versucht hat: Der Aufwand hebt nur hervor, dass nichts aus ihm zu machen ist.“

Das Schicksal meinte es wahrlich nicht gut mit Bachmann. Am 12. Oktober 1944 kam er zur Welt: unehelich. Er ist kein Wunschkind. Später suchte er seinen Vater auf. Er wollte wissen, „ob er sich freut, wenn er mich mal sieht“. Das Ergebnis: „Niederschmetternd“, zitierte ein Reporter Bachmanns Aussage, die er vor Gericht machte.

Seine Mutter heiratete nach dem Krieg. Das Verhältnis zum Stiefvater war passabel, auf seine Mutter ließ er nichts kommen.

Bachmann kränkelte oft, litt als Kind an Lungentuberkulose und musste bis zu seinem 23. Lebensjahr insgesamt zwei Jahre in Krankenhäusern verbringen. Geboren wurde er in Reichenbach im Vogtland, auf dem Gebiet der späteren DDR. Die Familie flüchtete 1956 in den Westen, erst zu einer Tante ins Ruhrgebiet, dann nach Peine.

Der Peiner Ernst-August Horneffer war mit dem etwa zwei Jahre älteren Bachmann eine Zeit lang befreundet. Er erinnerte sich vor ein paar Jahren und sagte unserer Zeitung: „Der Seppl ging auf die Sonderschule, ich auf die Volksschule. Er lebte in ungeregelten Familienverhältnissen. Der Seppl war aber ganz nett, aufgeschlossen. Er war ein ernster, ruhiger Junge.“

In Bachmanns Stasi-Akte, die unserer Zeitung vorliegt, ist vermerkt, dass er einen „ungenügenden Intellekt“ hat, deswegen musste er schon in der früheren DDR erst zur Sonderschule, später erreichte er „das Klassenziel der 4. Klasse nicht“. Während der Schulzeit war er „vorlaut und rüpelhaft“, wusste die Stasi.

Im Westen machte Bachmann sein sächsischer Dialekt zu schaffen. Er wurde gehänselt. Bachmann versuchte sich anzupassen, gewöhnte sich seinen Dialekt ab.

Von seinen Freunden kapselte sich Bachmann später ab. „Zuerst war er unser Beschützer, dann mit 14, 15 Jahren geriet der Seppl mehr und mehr auf die schiefe Bahn“, sagte Horneffer. Bachmann wurde zum Kleinkriminellen, entdeckte seine Leidenschaft für Waffen. Die stillte er auf dem Peiner Schießplatz. Hier fand er schon mit 17 Jahren den Kontakt zu Rechtsradikalen. Diese wurden später als „Braunschweiger Gruppe“ durch Bombenanschläge bekannt. Eine zentrale Figur war der Taxi-Unternehmer Hans-Dieter Lepzien. Das NPD-Mitglied spionierte später sowohl für die Stasi als auch für Niedersachsens Verfassungsschutz.

Bachmann wurde in eine Bergwerkslehre geschickt. Doch er wollte mehr. Knapp einen Meter sechzig war er klein. Er suchte nach Geltung. Handwerklich war Bachmann begabt. Er frisierte Mopeds, später machte er auch Autos schneller.

In Frankreich versuchte Bachmann ein neues Leben zu beginnen, wollte alles hinter sich lassen. Doch auch hier lief ziemlich viel ziemlich schief. Um sich über Wasser zu halten, beging er gelegentlich Einbrüche.

Nur ein Jahr vor dem Attentat auf Dutschke wurde Bachmann als Häftling von Mitgefangenen vergewaltigt und geschlagen. Er saß in Haft, weil er in eine Villa eingebrochen war. Nach dieser Demütigung kehrte Bachmann nach Deutschland zurück.

Nach Peine wagte sich Bachmann nicht mehr zurück. Hier hätte er als Gescheiterter gegolten. Zuletzt arbeitete Bachmann als Eisenwerker, dann als Anstreicher in München. Nach nur einer Woche kündigte er auch diese Stelle am 8. April 1968 – drei Tage vor dem Attentat auf Dutschke.

In diesen Jahren reifte in ihm der Hass auf „Rote“ und die linke Studentenbewegung. Lange galt DDR-Staatschef Walter Ulbricht als Feindobjekt in der Peiner Szene. Als Dutschke mehr und mehr in der Öffentlichkeit auftauchte, trat er an die Stelle Ulbrichts.

Vor Gericht äußerte Bachmann, dass die Sowjets für ihn „die größten Verbrecher“ waren. Hitler hielt er für einen „Staatsmann“. Ermittler fanden ein selbstgemaltes Hitler-Porträt an der Wand im Kinderzimmer in Peine und „Mein Kampf“ im Bücherregal.

Dutschke war für ihn ein Umstürzler, ein Kommunist, ein Gewaltapostel, ein Erzfeind. Vor Gericht trug Bachmann vor, er habe nur das ausgeführt, was die meisten wünschten. Was die meisten wünschten, glaubte er aus der „Bild“-Zeitung zu erfahren, die gegen Dutschke hetzte.

Bachmann lernte schon früh, was andere wollten. Er entwickelte einen Spürsinn, um sich bei denen beliebt zu machen, die ihn für eine Niete hielten. „Ich war baff und konnte das gar nicht glauben, was der Seppl da gemacht hatte“, kommentierte der Peiner Horneffer Bachmanns Tat.

Der Briefwechsel

Bachmann wurde zu sieben Jahren Haft verurteilt. Im Gefängnis erhielt er Briefe – ausgerechnet von Dutschke, seinem Opfer. Der zeigte sogar Verständnis, kam wie Bachmann aus der DDR, war gegen das SED-Regime, was Bachmann vorher nicht wusste.

Der Briefwechsel wurde veröffentlicht. Dutschke schrieb Bachmann: „Du wolltest mich fertigmachen. Aber auch, wenn Du es geschafft hättest, hätten die herrschenden Cliquen von Kiesinger bis zu Springer, von Barzel bis zu Thadden Dich fertiggemacht. Ich mache Dir einen Vorschlag: Laß Dich nicht angreifen, greife die herrschenden Cliquen an: Warum haben sie Dich zu einem bisher so beschissenen Leben verdammt?“

Bachmann war beeindruckt, bedauerte seine Tat, kündigte in einem der Briefe seine spätere Selbsttötung indirekt an. Er beging am 24. Februar 1970 Suizid, indem er sich mit einer Plastiktüte erstickte. Weihnachten 1979 starb Dutschke an den Spätfolgen des Attentats.

Dutschkes jüngster Sohn, Marek, konnte Bachmann – im Gegensatz zu seinem Vater – nicht vergeben. Dutschke musste nach dem Attentat sogar wieder das Sprechen lernen. Sein Sohn Marek sagte dem Autor dieses Artikels einmal: „Die Frage der Vergebung ist sehr schwierig für mich.“

Die Folgen

Die unmittelbaren Folgen des Attentats waren gewaltig. In vielen deutschen Groß- und Universitätsstädten gab es Proteste. Zehntausende gingen alleine in Berlin auf die Straße, um die Auslieferung von Zeitungen des Axel-Springer-Verlags zu verhindern. Sie setzten Auslieferungsfahrzeuge in Brand. Für die Demonstranten war klar, dass Bachmann nur das ausgeführt hatte, was die „Bild“-Zeitung zuvor vorbereitet hatte: durch die Hetze gegen Studenten im Allgemeinen und Dutschke im Besonderen. Für die „Bild“ war Dutschke „Volksfeind Nr. 1“. Die Schüsse, so glaubte man, sollten die gesamte Apo treffen und nicht nur ihren Kopf.

Die Demonstranten sahen sich mit mehr als 20 000 Polizisten konfrontiert, die mit Wasserwerfern, Tränengas, Gummiknüppeln, Stacheldraht und Hundestaffeln als Werkschutz Springers in Aktion traten. Das erschien vielen wie eine vorweggenommene Notstandsübung. Denn die Notstandsgesetze wurden Ende Mai 1968 mit den Stimmen von Union und SPD im Bundestag verabschiedet. Die Notstandsgesetze sollten die Bundesregierung ermächtigen, Grundrechte einzuschränken und Funktionen des Parlamentes auszuhebeln. Die Apo sah darin einen Schritt zurück in Richtung Faschismus.

Der Kommunarde Fritz Teufel wollte nach dem Anschlag auf Dutschke zusammen mit zwei anderen Axel Springers Privathaus in Berlin anzünden. Der Schritt in den Untergrund deutete sich bereits an, und der Weg in Richtung RAF war vorgezeichnet.

Das Attentat auf Dutschke war wie der Tod des Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 eine Beschleunigung für die 68er-Bewegung. Ohnesorg wurde durch den Polizisten (und Stasi-Mann) Karl-Heinz Kurras getötet, eine Revolte an der FU Berlin mit Dutschke an der Spitze folgte, schwappte auf Westdeutschland über. Heute stehen 68er für die Kommune 1 und freie Liebe, für die Individualisierung der Gesellschaft, für Kinderläden, die Frauen-, die Anti-Atom- und die Friedensbewegung. Sie waren Vorläufer der Grünen. Deutsche Linke tragen heute dennoch nicht das Gesicht Dutschkes auf T-Shirts oder Postern. Dort prangt der in Bolivien getötete Che Guevara. Eine Ikone, ein Märtyrer, wurde Dutschke nie. Das mag auch an seinen Bandwurmsätzen liegen, die kaum zu griffigen Slogans taugen.