Braunschweig. Union und SPD lassen bei der Bundestagswahl Federn. Die totgesagte FDP meldet sich zurück.

Es ist ein verhängnisvoller Satz, den Angela Merkel sagt. Als die Bundeskanzlerin am Mittag des 25. September in der CDU-Zentrale steht, soll sie vor den versammelten Hauptstadt-Journalisten das mit 32,8 Prozent zweitschlechteste Abschneiden in der Geschichte der Union erklären. Nur 1949 hatten CDU und CSU mit 31 Prozent bei einer Bundestagswahl ein noch schlechteres Ergebnis.

Und dann dieser Satz: „Ich kann nicht erkennen, was wir jetzt anders machen müssten.“ Das klingt nach einer unverbesserlichen Kanzlerin. Merkel ist jetzt die Frau, die behauptet, sie habe nichts falsch gemacht – trotz krachender Wahlniederlage.

Schicksalsjahr einer Kanzlerin

Ein „Weiter so“ – ihr Credo – kann sich Merkel nicht mehr erlauben. Erst recht nicht nach dem Scheitern der Jamaika-Verhandlungen. Schon bei den Sondierungen mit FDP und Grünen bleibt sie blass. Merkel ist kampferprobt. Und doch hielt sie sich in den vergangenen zwölf Jahren ihrer Kanzlerschaft bei vielen Themen mit konkreten Positionen zurück. Bislang ist sie damit gut gefahren. Während der Jamaika- Gespräche soll sie, die Kanzlerin, aber die Richtung vorgeben. Jamaika, das gab es noch nie, das schreit nach Erklärung, nach Einordnung, nach klaren Zielen. Doch Merkel sagt so gut wie nichts – und lässt die anderen reden: all die Lindners, Dobrindts und Özdemirs.

Ob das US-Magazin „Forbes“ Merkel 2018 noch einmal zur mächtigsten Frau der Welt kürt? Wahrscheinlich ist das nicht. Es gibt bereits Polit-Beobachter, die vorhersagen, dass die Kanzlerin nur noch die halbe Legislaturperiode übernimmt. Das sei längst parteiintern abgesprochen, um Kritiker zu besänftigen.

Gerade im Osten Deutschlands schlägt Merkel im Wahlkampf unverhohlener Hass entgegen. Unzufriedene brüllen die Kanzlerin auf Marktplätzen nieder. Dabei müsste Merkel nach den gewonnenen Landtagswahlen im Saarland, in Schleswig-Holstein und in Nordrhein-Westfalen eigentlich gestärkt in die Bundestagswahl gehen. Doch die Globalisierungsverlierer interessiert das herzlich wenig. Hat Merkel die Stimmung im Land verkannt?

Jetzt läuft alles auf eine erneute Große Koalition hinaus – die Minimallösung, wenn gar nichts mehr geht. Selbst wenn die SPD ihrer Parteiführung um Martin Schulz Mitte Januar bei einem Parteitag erlaubt, Verhandlungen über Merkels die dritte Große Koalition zu starten, bleibt ihre politische Zukunft ungewiss. Es kann durchaus sein, dass nach den Koalitionsverhandlungen ein Nein der SPD-Mitglieder steht. Kanzlerin Merkel stünde mit leeren Händen da.

Gefrustete SPD

Als der neue SPD-Chef Martin Schulz in Umfragen zu Jahresbeginn einen regelrechten Hype erlebt und scharenweise Menschen in die SPD eintreten, wähnen sich die Sozialdemokraten schon viel zu früh am Ziel. Nach drei verlorenen Landtagswahlen und einer desaströsen Bundestagswahl wirkt die SPD zaudernd und zerstritten. In Niedersachsen holt wenigstens Stephan Weil den einzigen sozialdemokratischen Sieg. SPD-Chef Martin Schulz rettet nach dem 20,5-Prozent-Debakel seinen Kopf durch den Oppositionsentscheid. Er macht schnell klar: Es geht um nichts weniger als die Neuausrichtung der SPD. Der Peiner Hubertus Heil, der als Generalsekretär den Wahlkampf der SPD geleitet hat, muss gehen.

Aus der von vielen Genossen herbeigesehnten Erfrischungskur in der Opposition wird nach dem Scheitern der Jamaika-Gespräche wohl doch nichts. Für eine stabile Koalition bleibt rechnerisch nur noch eine „Groko“.

Einzig Sigmar Gabriel scheint alles richtig gemacht zu haben. Der Goslarer wirkt, nachdem er den Parteivorsitz abgegeben hat und vom Wirtschaftsministerium ins Auswärtige Amt gewechselt ist, wie befreit. Er scheint seine Rolle als staatstragender Außenminister gefunden zu haben – und wird bei einer Großen Koalition im Amt nicht zu verdrängen sein.

Die rote Region

In unserer von der Industrie geprägten Region zwischen Harz und Heide sind die Vorzeichen anders. Hier hat die SPD noch eine Basis, hier hat die SPD eine Bastion. Bei der Bundestagswahl gewinnen die Sozialdemokraten sämtliche vier Wahlkreise – ohne große Probleme. Mit Hubertus Heil und Sigmar Gabriel sind zwei alte Hasen und politische Schwergewichte dabei, Fraktionsvize Carola Reimann zieht erneut in den Bundestag ein. Sie wechselt später aber ins Kabinett von Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil, wird Sozialministerin. Falko Mohrs, der Sohn von Wolfsburgs Oberbürgermeister Klaus Mohrs, zieht aus dem Stand heraus ebenfalls in den Bundestag ein.

Bei der Landtagswahl wiederholt die SPD den Coup: Dieses Mal gehen aufgrund der kleiner geschnittenen Wahlkreise sämtliche 13 Direktmandate zwischen Gifhorn und Goslar an die SPD. Gabriel spricht im politischen Berlin stolz vom „roten Klops“, wenn es um seine Heimat geht.

Das Bayern-Duo

Jahrelang waren der CSU-Chef, Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer, und Landesfinanzminister Markus Söder in inniger Feindschaft verbunden. Legendär ist Seehofers Aussage, Söder sei „von Ehrgeiz zerfressen“, habe „charakterliche Schwächen“.

Beim CSU-Parteitag Mitte Dezember aber sitzen sie harmonisch nebeneinander – zumindest soll es so wirken. Wenige Tage zuvor gab Seehofer bekannt, dass Söder sein Nachfolger werden soll – noch vor der Landtagswahl in Bayern im Herbst 2018. Der Söder hat es tatsächlich geschafft.

Viele CSU-Delegierte beim Parteitag fragen sich dennoch, wie das gutgehen soll mit der neuen Doppelspitze – und sind sich doch weitgehend einig: Es wird funktionieren. Weil es einfach funktionieren muss. Verantwortung schweißt zusammen. Beide eint das Ziel: die Landtagswahl 2018. Seehofer gibt die bayerische Staatskanzlei ab – wohl im Wissen, dass ein Ministerposten in der Bundesregierung winkt.

Lindner lässt Jamaika platzen

Am 19. November kurz vor Mitternacht ist der Jamaika-Traum vorerst ausgeträumt. Ein zerknitterter FDP-Chef Christian Lindner tritt mit Parteispitzen vor die Kameras und verkündet das Aus: Er lässt die Jamaika-Sondierungen platzen.

Lindner ist der Mann, der für die Wiederauferstehung der FDP sorgt. Im Wahlkampf wirkt er vor allem – cool, auf Wahlplakaten wie ein Dressman. Am Ende wirkt er aber wie ein PR-Experte in eigener Sache. Von der Verantwortung, die die FDP tragen wollte, ist nichts mehr zu hören. Auf den Plakaten stand neben dem smarten Lindner noch der Spruch „Nichtstun ist Machtmissbrauch“. Dann halt eben doch Nichtstun.

Als die SPD noch am Wahlabend eine Große Koalition reflexartig kategorisch ausschließt, drängt sie die FDP in die Gespräche mit Union und Grünen. So wird aus dem großen Wahlsieg eine große Verantwortung, der sich die Liberalen am Ende nicht stellen wollen. Aber Lindner ist ja erst 38. Und den Wahlsieg kann ihm keiner mehr nehmen.

AfD bleibt unberechenbar

Die AfD ist in 14 Landtagen vertreten, zur Bundestagswahl holt sie aus dem Stand satte 12,6 Prozent und stellt 92 Abgeordnete. Ausgerechnet in Bayern erreicht die AfD ihr bestes West-Wahlergebnis. Die CSU ist alarmiert.

In unserer Region ist das Wahlergebnis der AfD sehr heterogen. In Braunschweig kommt die Partei in einzelnen Wahllokalen nur auf zwei bis drei Prozent, im Wolfsburger Problemviertel Westhagen jedoch auf 20,5 Prozent. AfD-Hochburg zwischen Harz und Heide ist Salzgitter – vor allem Lebenstedt. Durchgängig kommt sie auf 20 Prozent und mehr. In einem Wahllokal sind es 42,8 Prozent – einer der Top-Werte in Westdeutschland. Salzgitter hat eine relativ hohe Arbeitslosigkeit, hier leben mehr als 5000 Flüchtlinge. Das ist der Nährboden für Protestwähler.

Dass die Partei unberechenbar bleibt und in diesem Jahr einen weiteren Rechtsruck hinlegt, stört viele Wähler offenbar herzlich wenig. Der Ton ist aggressiver geworden. Wer sich klar gegen den rechtsnationalen Flügel um Björn Höcke und André Poggenburg stellt, hat es schwer.

Bei der Wahlparty am Abend der Bundestagswahl formuliert der Bundessprecher Alexander Gauland eine Kampfansage an die künftige Regierung: „Wir werden sie jagen.“ Und: „Wir werden uns unser Land und unser Volk zurückholen.“

Am nächsten Morgen sitzt die Parteispitze samt Frauke Petry bei einer Pressekonferenz in Berlin auf dem Podium. Darüber, dass Petry nach der Wahl eine eigene Partei gründen wolle, war in den Monaten zuvor zwar schon viel spekuliert worden. Trotzdem lässt das, was jetzt kommt, alle Anwesenden staunen. Petry erklärt, „dass ich der AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag nicht angehören werde“. Dann verlässt sie den Saal. Die AfD bleibt unberechenbar.