Braunschweig. Hobby-Insektenforscher beklagen ein massenhaftes Insektensterben. Ein Professor für Agrarökologie bestätigt das Problem.

Unser Leser Dirk Volkmann aus Königslutter fragt:

Welche Folgen hat der Rückgang von Insekten in Deutschland?

Die Antwort recherchierte Geraldine Oetken

Die Insekten sterben und zwar massenhaft: Die Anzahl der Insekten ist in den vergangenen 27 Jahren um 75 Prozent gesunken. Eine Studie, die am vergangenen Mittwoch niederländische, deutsche und britische Wissenschaftler veröffentlicht haben, kommt zu diesem Schluss. Geraldine Oetken hat mit Teja Tscharntke, Professor für Agrarökologe an der Universität Göttingen, über die Erkenntnisse der Studie und die Folgen des Insektenschwundes gesprochen.

Herr Tscharntke, wie viele Insekten haben Sie heute schon gesehen?

Insektensterben

Keins. Man sieht bei diesem Wetter nur dann Insekten, wenn man explizit danach sucht. Heute müsste man am Boden oder unter den Pflanzen gucken.

Laut einer aktuellen Studie ist in 27 Jahren die Anzahl der Insekten um 75 Prozent gesunken. Wie sind die Autoren der Studie vorgegangen?

Die Autoren sind Hobby-Insektenforscher, die einem naturwissenschaftlichem Verein in Krefeld angehören. Sie haben seit dem Anfang der 80er Jahren in 63 verschiedenen Naturschutzgebieten Insekten in Fallen gesammelt. So haben die Autoren festgestellt, dass die Fangerträge immer geringer wurden – und zwar 75 Prozent weniger als noch vor 30 Jahren. Das ist ein dramatisches Ergebnis. Bisher dachten wir immer, dass in Naturschutzgebieten die Welt noch halbwegs in Ordnung wäre. Dieses Ausmaß beim Rückgang hat auch die Experten überrascht.

Kritiker sagen, dass die Ergebnisse auf unsicherer Datenbasis fußen. Wie schätzen Sie die Daten ein?

Im Juli gab es bereits eine Anhörung zu der Studie im Umweltausschuss des Bundestages. Ich war dort auch eingeladen. Zu dem Zeitpunkt lagen aber nur einzelne Daten vor, die nicht statistisch ausgewertet waren. Inzwischen wurden die Daten aber sehr genau analysiert. Die Studie ist zu einer fundierten Analyse geworden, die klar zeigt, dass an der Aussage nicht zu zweifeln ist.

Wer ist Schuld am Massensterben?

Das ist schwer zu beurteilen. Ein Grund könnte sein, dass in Naturschutzgebieten die vielen Arten nur überleben können, wenn immer wieder auch neue Tiere von außen dazukommen. Ist das nicht der Fall, herrschen Aussterbeprozesse vor. Wenn dann außerhalb der Schutzgebiete bis zum Horizont nur Ackerflächen, keine Hecken, keine Feldränder zu sehen sind, findet in den Schutzgebieten keine Besiedlung statt. Sind Naturschutzgebiete so isoliert, verlieren sie an Bedeutung.

Welche Rolle spielen Pflanzenschutzmittel?

Wer Insektizide aufs Feld bringt, muss sich nicht wundern, wenn Insekten verschwinden. Aber es gibt auch indirekte Auswirkungen. Forscher haben festgestellt, dass die Arbeiterinnen bei den Honigbienen nicht mehr zurück zu ihrem Volk finden. Dass Hummelvölker kaum noch Königinnen produzieren. Oder dass andere Insekten ihren Partner nicht mehr finden.

Was sind die Folgen des Insektensterbens? Droht die Apokalypse?

Die Apokalypse besteht schon darin, dass wir die Arten verlieren. Das ist ein ethisches Problem. Wenn wir die Vielfalt erhalten wollen, die auf der Erde existiert, müssen wir dafür Verantwortung übernehmen. Man darf das nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Nützlichkeit betrachten. Aber jede Art macht etwas anderes. Insofern hat Artenvielfalt eine Bedeutung für das Funktionieren von Ökosystemen. Gerade beim Bestäuben von Pflanzen. Wer zum Beispiel Erdbeerplantagen innerhalb einer ausgeräumten Landschaft anpflanzt, hat nur die Hälfte des Ertrages, den er in einer bunten Landschaft hätte.

Was können Landwirte und Regierungen tun, um das Sterben der Insekten einzudämmen?

Es wäre verkehrt, den einzelnen Landwirt an den Pranger zu stellen. Der ist Unternehmer und muss nach ökonomischen Gesichtspunkten handeln. Aber man kann schon fragen: Warum fordern die Interessensverbände keine Politik ein, die den Landwirt dafür viel mehr als bisher entlohnt, dass er eine nachhaltige Landwirtschaft mit weniger Düngung und Pestizideinsatz anwendet? Und dass er eine Landschaft gestaltet, die Lebensräume für viele Arten gewährleistet!

Für die Studie haben Ehrenamtliche die Fallen aufgestellt und betreut. Wieso gab es keine Langzeitstudie in der Wissenschaft?

In der Wissenschaft sind Langzeitstudien selten. Man würde für solch eine aufwendige Studie auch keine Anstellung finden. Das ist ein Problem. So ein Langzeit-Monitoring ist aber sehr wichtig. Insofern ist es ein großes Glück, dass wir die Amateur-Wissenschaftler haben. Es wäre gut, wenn Institutionen wie das Bundesministerium für Bildung und Forschung Langzeitprogramme auflegen würden.

Insekten haben ein Image-Problem. Warum ekeln sich viele Menschen vor ihnen?

Die meisten Menschen setzen sich wenig mit Insekten auseinander. Wir haben aber 33 000 Insektenarten hier in Deutschland. Das ist eine faszinierende Vielfalt an Farben, Verhalten und Gestalten. Wenn man sich damit beschäftigt, kann man fast jeden davon überzeugen, dass das ein großer Reichtum in unserer Umwelt ist, den wir auch erhalten sollten.