Braunschweig. Viren infizieren nicht nur Menschen und Tiere, sondern auch Bakterien. An der DSMZ in Braunschweig gibt es eine große Sammlung von Bakteriophagen.

Antibiotika sind ein Grundpfeiler der modernen Medizin. Nicht nur alltägliche Infektionen werden damit behandelt, auch viele Operationen wären ohne die vorbeugende Unterdrückung bakterieller Erreger kaum denkbar. Da Chemotherapie das Immunsystem schwächt, sind auch viele Krebspatienten auf Antibiotika angewiesen. Doch nun droht dieser Grundpfeiler zu kollabieren.

Denn immer mehr Erreger entwickeln Resistenzen gegen die Wirkstoffe. Das ist ein natürlicher Prozess. In den USA entdeckten Forscher abseits jeglicher Human- oder Tiermedizin in einer seit Millionen von Jahren von der Außenwelt isolierten Höhle ein Bakterium, das gegen 26 Antibiotika resistent ist. Im ewigen Krieg der Mikroorganismen entwickeln Pilze und Bakterien ständig neue Waffen gegeneinander - und Mechanismen, um sich dagegen zu verteidigen.

„An jedem Krankenhaus gibt es Patienten mit kaum noch therapierbaren resistenten Keimen.“
„An jedem Krankenhaus gibt es Patienten mit kaum noch therapierbaren resistenten Keimen.“ © Wilfried Bautsch, Immunologe, Städtisches Klinikum Braunschweig

Vermehrungszyklus eines Bakteriophagen

Doch mit dem massenhaften Einsatz von Antibiotika nimmt der Mensch Einfluss auf diese natürlichen Prozesse: Die für Bakterien tödliche Umgebung in einem mit Antibiotika behandelten Lebewesen erzeugt einen Selektionsdruck. Zufällige Mutationen, die Resistenz gegen die Wirkstoffe vermitteln, werden zum Überlebensvorteil. Die Folge: Resistente Keime setzen sich gegenüber anfälligen Bakterien durch und können sich ungestört vermehren.

„Es gibt einen Krieg zwischen Menschen und Mikroben“, fasste es Steve Solomon, Direktor der Abteilung Antibiotikaresistenz in der US-Behörde Centers for Disease Control and Prevention (CDC, deutsch: Zentren für Krankheitskontrolle und Prävention), im Februar 2015 auf einer Wissenschaftskonferenz im kalifornischen San Jose zusammen. „Aber die Mikroben haben drei Milliarden Jahre Erfahrung. Wir nur 70.“

Es droht das Ende des antibiotischen Zeitalters

Das Thema ist mittlerweile in der Weltpolitik angekommen. Weltweit sterben jährlich etwa 700 000 Menschen an Infektionen mit resistenten Keimen, davon 50 000 in Europa und den USA. Beim G7-Gipfel in Berlin 2015 setzte die Bundesregierung das Problem der Antibiotika-Resistenz ganz oben auf die Agenda. Auch auf dem G20-Gipfel im Juli in Hamburg soll es ein Schwerpunkt-Thema sein.

Eine Untersuchung im Auftrag der britischen Regierung vom Dezember 2014 kam zu dem Ergebnis, dass bei Fortschreiben der aktuellen Entwicklungen im Jahr 2050 mit weltweit zehn Millionen Toten durch resistente Erreger zu rechnen wäre – weit mehr als durch Verkehrsunfälle und sogar Krebs. Die ökonomischen Kosten werden auf jährlich bis zu 100 Billionen US-Dollar geschätzt, was einer Reduzierung des globalen Bruttoinlandsprodukts um 2 bis 3,5 Prozent entspräche.

Multimedia-Reportage: Phagen - Die Bakterienfresser

Entsprechend warnt der Bericht vor einer „Rückkehr ins dunkle Zeitalter der Medizin“. Auch die Weltgesundheitsorganisation WHO sieht ein „post-antibiotisches Zeitalter“ heraufziehen. Auf Anregung des Bundesgesundheitsministeriums veröffent- lichte die WHO Ende Februar darum erstmals eine Liste der Keime, gegen die dringend neue Wirkstoffe gebraucht werden.

Doch nicht nur auf weltpolitischer Bühne und auf Regierungsebene ist Antibiotika-Resistenz ein Thema. Das Problem ist allgegenwärtig und betrifft lokale Kliniken, kleine Arztpraxen und Pflegeheime. „An jedem Krankenhaus gibt es Patienten mit kaum noch therapierbaren resistenten Keimen“, sagt der Leiter des Instituts für Mikrobiologie, Immunologie und Krankenhaushygiene am Städtischen Klinikum Braunschweig, Professor Wilfried Bautsch.

Laut dem Niedersächsischen Landesgesundheitsamt sind mehr als 20 Prozent aller in niedersächsischen Krankenhäusern gesammelten Proben des Bakteriums Staphylococcus aureus resistent gegen wichtige Antibiotika (MRSA). In unserer Region sind es bis zu 25 Prozent.

Gegen Antibiotikaresistenzen wird an vielen Fronten gekämpft

Aber unsere Region ist nicht nur betroffen, hier wird auch nach Lösungen für das Problem gesucht. Das Hygienenetzwerk Südostniedersachsen, an dem Kliniken, Gesundheitsämter und Pflegeeinrichtungen beteiligt sind, schult Mitarbeiter im Gesundheitsweisen für den Kampf gegen Krankenhauskeime. Am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) in Braunschweig werden Naturstoffe darauf geprüft, ob sie sich gegen Erreger einsetzen lassen.

Bei der Deutschen Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen (DSMZ) in Braunschweig verfolgt man noch einen anderen Ansatz. „Wir sammeln Proben aus der Umwelt, aus Flüssen, Teichen, Tümpeln, Klärwasser, Kanalisation, Erde“, sagt Dr. Christine Rohde. Denn überall dort kämen potenziell krankheitserregende Mikroben vor. Doch die Mikrobiologin ist nicht an den Bakterien interessiert, sondern an ihren natürlichen Gegenspielern. Rohde ist Kuratorin der Bakteriophagen-Sammlung der DSMZ.

Bakteriophagen (dt.: Bakterienfresser), kurz Phagen, zählen zu den Viren. Nur infizieren sie keine Zellen von Menschen oder Tieren, sondern Bakterien. Wie ihre Beute gibt es sie überall – allerdings zehn Mal so häufig. Phagen sind der häufigste Organismus auf diesem Planeten. Und anders als der Mensch führen sie ihren Krieg gegen die Mikroben nicht erst seit 70, sondern bereits seit Milliarden von Jahren.

Phagen fressen Löcher in den Bakterienrasen

„Nach dem Sammeln der Proben legen wir eine Anreicherungskultur an, das heißt, wir kultivieren den Bakterienstamm und geben dann die filtrierte Wasserprobe dazu. Wenn man Glück hat, zeigen sich nach einiger Zeit Phagen-Plaques, Löcher im Bakterienrasen, aus denen die die Phagen isoliert werden können“, erklärt Rohde. Glück bedeutet in diesem Fall, dass die Wasserprobe Phagen enthält, die es auf das ausgewählte Bakterium abgesehen haben.

Denn jeder Phage verfügt über Teile, die genau zu Oberflächenstrukturen seines Wirts passen. Damit bindet er an Zelle einer spezifischen Bakterienart. Anschließend injiziert er sein Erbgut (DNA) durch die Zellmembran ins Innere des Bakteriums. Dort wird das Erbgut abgelesen und die Zelle so umprogrammiert, dass sie nun neue Phagen produziert. Am Ende wird das Bakterium zum Selbstmord gezwungen: Es produziert ein Enzym, das die Zellwand auflöst. Das Bakterium platzt und entlässt rund 200 Phagen, die sich auf die Suche nach neuen Wirten machen.

Findet dieser Prozess in der Petrischale statt, ist dies mit bloßem Auge an Löchern in der Bakterienkultur erkennbar. „Anschließend bestimmen wir das Wirtsspektrum des Phagen und viele andere Parameter. Der letzte, komplizierteste und teuerste Schritt ist die Sequenzierung der DNA“, beschreibt Christine Rohde das Verfahren. Sind alle Eigenschaften des Phagen ermittelt, wird er in die Sammlung aufgenommen und mit einer Nummer versehen. Wissenschaftler aus aller Welt können über die Nummer die Informationen einsehen und bei der DSMZ Phagen für ihre eigene Forschung bestellen.

Als eine Art mikrobiologische Bibliothek sammelt die DSMZ bereits seit mehr als 25 Jahren Phagen. Seit einigen Jahren hat das Interesse am therapeutischen Einsatz der Viren stark zugenommen. Anfang 2016 wurde daher entschieden, die Phagen-Forschung an der DSMZ auszubauen. Die Arbeitsgruppe von Christine Rohde erhielt ein größeres Labor, weitere Mitarbeiter wurden eingestellt. Mit rund 600 Bakteriophagen ist die Sammlung die größte in Deutschland, und sie soll künftig massiv ausgebaut werden.

Dass dies erst jetzt geschieht, mag überraschen. Denn entdeckt wurden die Bakterien-Viren bereits 1917 von dem kanadischen Biologen Félix Hubert d’Hérelle. Es folgten Jahrzehnte der intensiven Erforschung und auch Erprobung von Phagen für medizinische Zwecke. „Ich habe nie verstanden, warum die therapeutische Phagenforschung im Westen in den 1940er Jahren komplett beendet wurde“, sagt Professor Bautsch vom Städtischen Klinikum. Einer der Gründe dürfte aber die Entdeckung des Penicillins und damit der Beginn des Antibiotika-Zeitalters gewesen sein.

In Osteuropa werden Phagen seit Jahrzehnten eingesetzt

In Osteuropa hingegen, wo Antibiotika rar waren, wurden Phagen weiterhin zur Behandlung von Infektionen eingesetzt. Ein Mitarbeiter d’Hérelles, der georgische Bakteriologe Georgie Eliava, hatte in Tiflis ein Institut für Phagenforschung gegründet, das zwischenzeitlich Phagenmedikamente für die gesamte Sowjetunion produzierte und das bis heute existiert und Patienten mit Phagen behandelt. In der EU und in den USA hingegen ist eine solche Therapie nicht zugelassen.

„Ich habe von Phagen zum ersten Mal im Studium gehört“, erinnert sich Christine Rohde. „Da waren sie Werkzeuge in der Genetik.“ Mit ihnen wurde unter anderem die Regulation von Genen untersucht. Heute werden sie in der Gentechnik zum Einschleusen von Erbgut in andere Zellen verwendet. Über eine therapeutische Nutzung wurde damals nicht viel nachgedacht. „Um ehrlich zu sein, habe ich die Phagen damals gar nicht sehr gemocht.“

Das hat sich längst geändert. „Ich sehe sie als Beitrag zur Lösung des Problems der Antibiotikaresistenz“, formuliert die Mikrobiologin vorsichtig. Die Amerikanerin Elisabeth Kutter, die wohl prominenteste Phagenforscherin, reist durch die Welt, trommelt für ihre Forschung und hält leidenschaftliche Vorträge voller Beispiele für die fast schon wundersame Heilung todkranker Patienten mit Phagen. Auch in Braunschweig hielt sie 2013 einen solchen Vortrag. Christine Rohde ist zurückhaltender. Sie spricht leise und bedächtig, korrigiert eigene Versprecher sofort. Sie neigt nicht zu Emotionalität, selbst wenn es um ihren persönlichen Bezug zum Thema geht. „Im Bekanntenkreis sind einige betroffen. Ich könnte allein drei Fälle von schwersten MRSA-Infektionen nennen“, sagt sie.

Verzweifelte Patienten wenden sich hilfesuchend an die DSMZ

Seitdem Phagentherapie häufiger in den Medien auftaucht, rufen immer wieder verzweifelte Patienten bei der DSMZ an. „Der Leidensweg ist da immer sehr lang, sonst würden sie nicht bei uns landen. Sie greifen nach dem letzten Strohhalm“, sagt Rohde.

Doch helfen kann sie nicht. Die DSMZ darf keine Phagen für therapeutische Zwecke herausgeben. Sie kann lediglich auf das Institut in Georgien verweisen. Womöglich ist das der Grund für Rohdes Zurückhaltung. Sie will keine falschen Hoffnungen wecken. Klinische Studien, politisches Handeln, ein passendes EU-Zulassungsverfahren – „Es geht alles viel zu langsam“, seufzt die Wissenschaftlerin und fügt leise hinzu: „für die Patienten“. Für realistisch hält sie die Anwendung von Phagen innerhalb der EU erst in etwa fünf Jahren.

Dennoch ist sie zuversichtlich. „Die Patienten wollen es, die Ärzte wollen es, Medien berichten, klinische Studien sind geplant“, sagt Rohde. Auch auf Seiten der Politik gebe es mittlerweile ein echtes Interesse. Das helfe ein bisschen darüber hinweg, dass „wir das Thema alle verschlafen haben“. Außerdem sei die „Phagencommunity“, also die Wissenschaftler, die an Phagentherapie forschen, zwar überschaubar, aber international eng verknüpft.
„Die hat viel Power.“ Das motiviere.

„Wer nicht phagt, der nicht gewinnt“, steht an der Tür des Labors von Christine Rohde. Die passende Comic-Zeichnung dazu stammt von einem der Mitarbeiter. Während Rohde im Interview eher reserviert wirkt, ist sie an ihrem Arbeitsplatz plötzlich viel lebhafter. Immer wieder hebt sie Petrischalen an, hält sie gegen das Licht und erklärt die Experimente. „Das ist Mycobacterium abscessus. Wächst langsam – das haben wir nicht so gern“, rügt sie das Bakterium.

Potenzielle Medikamente aus der Kläranlage

Gegen einige wichtige Erreger konnten die Braunschweiger Wissenschaftler trotz intensiver Suche noch keine Phagen finden. Dazu zählen Legionellen, die unter anderem in Wasserleitungen und Klimaanlagen vorkommen und die Legionärskrankheit auslösen, eine gefährliche Lungenentzündung.

Nach Phagen gegen Acinetobacter baumannii, ein gefährlicher und gegen viele Antibiotika resistenter Krankenhauskeim, suchten die Wissenschaftler der DSMZ in der Kanalisation am Braunschweiger Klinikum an der Celler Straße. Vor einigen Jahren fanden Wissenschaftler zwei gegen diesen Keim wirksame Phagenstämme im Abwasser des Universitätsklinikums im belgischen Gent.

Auch gegen Staphylococcus aureus, inklusive MRSA, gibt es bereits wirksame Phagen. Und auch bei anderen Erregern ist Rohde hoffnungsfroh. Womöglich finde man eiumal sogar etwas für die Behandlung der Tuberkulose. „Gegen Mycobacterium tuberculosis Phagen zu haben, wäre ein Traum.“ Sie freue sich immer, wenn sie Plaques in den Bakterienkulturen entdecke. Fündig würden die Forscher sogar in unmittelbarer Nähe. „Unser Phage gegen Pseudomonas aeruginosa stammt aus dem Tümpel hinter dem Institut.“

Dort angekommen, wird das Gespräch philosophisch. „Die Natur schafft es irgendwie, Bakterien und Phagen im Einklang zu behalten“, sagt Christine Rohde und deutet auf den kleinen Teich, in dem unzählige der Organismen in diesem Moment miteinander kämpfen. Denn weder rotten Phagen ihre Wirte vollständig aus, noch führen die stets neuen Abwehrmechanismen der Bakterien zum Ende der Viren. Schätzungen zufolge wird jeden Tag etwa die Hälfte sämtlicher Bakterien auf dem Planeten von Phagen zerstört.

Die Forscherin wollte eigentlich längst wieder zurück an ihrem Arbeitsplatz sein, aber nun spricht sie voller Begeisterung immer neue Aspekte der Phagenforschung an. Menschen mögen erst seit etwa 100 Jahren aktiv in diesem Wettkampf der Mikroorganismen mitmischen, aber Wissenschaftler wie Christine Rohde sind entschlossen, den Erfahrungsrückstand schnell aufzuholen.