Braunschweig. Professor Ulrich Menzel wagt im Polit-Orakel 2017 die politische Vorschau: Er hält die Fortsetzung der Großen Koalition für längst ausgemacht.

Professor Ulrich Menzel ist das Polit-„Orakel“ unserer Zeitung. Andre Dolle sprach mit ihm über die Bundestagswahl, den Terrorismus und den Brexit. Laut Menzel hat die AfD in der Region besonders gute Chancen.

2016 hat mit der Silvesternacht von Köln schlecht begonnen und mit dem Anschlag von Berlin schlecht aufgehört. Zwischendurch gab es die Ereignisse in Nizza, Brüssel und München. Wird 2017 ruhiger?

Ich fürchte nein. Was wir 2016 erlebt haben, ist – plakativ ausgedrückt – die Globalisierung des Bürgerkriegs. Die weltweiten Konflikte haben sich durch die Terroranschläge in die westlichen Länder verlagert und sind nun auch im Herzen Deutschlands angekommen.

„Unsere Region, der altindustrielle Kern Niedersachsens, ist potenziell ein Wählerreservoir für die AfD.“
„Unsere Region, der altindustrielle Kern Niedersachsens, ist potenziell ein Wählerreservoir für die AfD.“ © Ulrich Menzel (69), Politikwissenschaftler

Der Attentäter von Berlin verschwand trotz seines Status als „Gefährder“ vom Radar der deutschen Sicherheitsbehörden. Nun werden aus der Politik Rufe nach schärferen Gesetzen laut. Brauchen wir mehr Videoüberwachung?

Eine verschärfte Überwachung wird Attentäter nicht abhalten. Im Gegenteil: Die Dokumentation der Anschläge per Video könnte die Täter womöglich sogar motivieren. Eine verstärkte Überwachung, die durch Kameras äußerlich erkennbar ist, wird der Bevölkerung aber ein größeres Gefühl von Sicherheit verleihen. Politiker aus der Großen Koalition im Bund und auch aus den Ländern, die dieses fordern, treffen auf eine gewandelte Akzeptanz der Bevölkerung. Die persönliche Freiheit der Bürger war über viele Jahre ein hohes Gut. Die Ereignisse des vergangenen Jahres haben diese Wertigkeit verschoben. Die persönliche Sicherheit wiegt schwerer.

Was halten Sie von der geforderten verschärften Abschiebepraxis?

Auch das hat eher eine symbolische Bedeutung. Faktisch ist eine verschärfte Abschiebung schwer umzusetzen, das hat das Beispiel der 50 Afghanen im Dezember gezeigt. Die Herkunftsländer müssen mitspielen. Das hat Tunesien im Falle des Attentäters von Berlin aber nicht gemacht. Viele Asylbewerber haben keine Papiere, ihr Herkunftsland ist daher nicht bekannt. Ein weiteres Problem: Sollen Asylbewerber abgeschoben werden, tauchen einige von ihnen ab. Schließlich fehlen aufseiten der Behörden, der Bundespolizei und der Gerichte die personellen und logistischen Kapazitäten. Und: Asylbewerber können ihre Abschiebung durch die rechtsstaatlichen Instanzen noch stärker anfechten. Es geht schließlich um den Einzelfall.

Angela Merkel tritt bei der Bundestagswahl im September erneut als Kanzlerkandidatin an. Dass die Union die Wahl gewinnt und Merkel wieder Kanzlerin wird, ist angesichts der Umfragewerte sehr wahrscheinlich. Dazu muss man kein großer Prophet sein, oder?

Nein, Merkel wird wieder Kanzlerin. Ganz grundsätzlich gibt es drei mögliche Konstellationen: Schwarz-Rot, Schwarz-Grün und Rot-Rot-Grün. Letzteres wäre die einzige Konstellation, bei der Merkel nicht Kanzlerin wird. Nachdem aber bei der Entscheidung, wer Bundespräsident wird, die Wahl nicht auf den Grünen Kretschmann und die Ex-Stasi-Beauftragte Birthler fiel, war das gleichzeitig eine Vorentscheidung der Fortsetzung einer Großen Koalition. Das ist Teil des Deals zwischen Union und SPD, damit Steinmeier im ersten Wahlgang zum Bundespräsidenten gewählt wird. Es geht bei der Bundestagswahl nur darum, wie viele Ministerien die Parteien bekommen.

Das heißt, die SPD wird eine Koalition mit den Linken und den Grünen auch dann nicht eingehen, wenn es rechnerisch möglich wäre?

Der linke Flügel der Linkspartei hat Bedenken, ebenso der rechte Flügel der Grünen. Linken-Spitzenkandidatin Wagenknecht marschiert in Richtung AfD. Es wird aber wohl schon rein rechnerisch nicht reichen, da die AfD im Osten auf Kosten der Linkspartei und im Ruhrgebiet auf Kosten der SPD Stimmen gewinnen wird.

Zur AfD will unser Leser Gert Thiele wissen: Wird sie nach ihren Erfolgen bei Landtagswahlen auch in den Bundestag einziehen?

Ja, ganz eindeutig, die Partei wird etwa 12 bis 15 Prozent erreichen.

Wie wird die AfD denn in unserer Region abschneiden?

Ich sehe Parallelen zwischen unserer Region und dem „Rust Belt“ (Rostgürtel, die Redaktion) in den USA. In dieser alten Industrieregion der USA konnte Trump bei der Präsidentschaftswahl punkten. Die knapp gewonnenen Staaten Illinois, Michigan und Pennsylvania mit den Standorten der Stahl- und Autoindustrie waren früher sichere Staaten für die Demokraten. Durch deren Krise sind viele Arbeiter Globalisierungsverlierer geworden und haben den Populisten Trump gewählt.

Auch unsere Region ist geprägt von der Stahlindustrie und vor allem der Automobilbranche. VW aber geht es trotz des Abgas-Skandals doch ganz gut...

Das stimmt. Ich gehe davon aus, dass VW den Abgas-Skandal meistern und auch den Wandel von den Verbrennungsmotoren zur E-Mobilität schaffen wird. Das wird aber viele Arbeitsplätze kosten, weil Elektroautos einfacher zu bauen sind. Der klassische Arbeiter am Band wird bei VW verschwinden. Dafür sorgt der zunehmende Einsatz von Robotern.

Und bei der Salzgitter AG?

Da habe ich größere Bedenken. Der eigentliche Grund, warum es in Salzgitter und Peine Stahlwerke gibt, die Erzvorkommen, ist schon lange nicht mehr relevant. Kohle und höherwertiges Erz müssen von weit her herangeschafft werden. Salzgitter ist aber kein Küstenstandort. Gleiches gilt auch für das Ruhrgebiet. Perspektivisch hat die Stahlindustrie bei Massenstahl keine Zukunft. Da unsere Region eher monostrukturell geprägt ist, bedeutet das, dass auch hier viele Arbeitnehmer Opfer des Strukturwandels werden. Somit ist der altindustrielle Kern Niedersachsens potenziell ein Wählerreservoir für die AfD.

Das gilt aber noch nicht für die kommende Bundestagswahl, oder?

Das wird ein längerer Prozess sein, kann sich aber schon bei der Bundestagswahl auswirken. Bei der letzten Kommunalwahl war die AfD in der Region dort, wo sie angetreten ist, bereits erfolgreich.

Wie erklären Sie sich die Erfolge der AfD, die vielen Protestwähler? Vielen Deutschen geht es gut, wir haben wenig Arbeitslosigkeit, eine niedrige Inflation, die meisten Renten sind passabel.

Da hilft das Modewort „postfaktisch“. Nicht das rationale Argument, die Fakten, beeinflussen bei immer mehr Bürgern ihr Wahlverhalten, sondern Gefühle und Stimmungen. Dass die AfD gerade in Ostdeutschland Wähler mit dem Ausländerthema erreicht, obwohl es dort die wenigsten Ausländer gibt, veranschaulicht das „postfaktische“ Argument.

Zieht die FDP wieder in den Bundestag ein?

Die FDP wird knapp an der 5-Prozent-Hürde scheitern.

Wie wird sich Steinmeier als Bundespräsident bewähren?

Außenminister sind populäre Politiker, weil sie Staatsgäste begrüßen, über rote Teppiche schreiten, Deutschland in der Welt vertreten. Steinmeier hat bereits eine präsidiale Aura, redet in wohlgesetzten Worten, wirkt mäßigend. Er wird Steinmeier bleiben.

Wird der scheidende EU-Parlamentspräsident Schulz oder Gabriel SPD-Kanzlerkandidat?

Das wird Sigmar Gabriel. Aber: Was bringt das? Der Begriff Kanzlerkandidat macht nur Sinn, wenn eine Chance besteht, Kanzler zu werden. Bei Gabriel würde ich vom Spitzenkandidaten sprechen.

Jan Lukas Feldhahn fragt: Wie wird sich vor dem Hintergrund der USWahlen das Gefüge zwischen den Staaten ändern?

Bevor Trump im Amt ist, hat er es fertig gebracht, eine diplomatische Krise mit China auszulösen, weil er mit der taiwanischen Präsidentin telefoniert hat. Es deutet sich ein antichinesischer Kurs ab, weil er die Chinesen als Ursache der amerikanischen Krise sieht. Europa wird mehr an Verantwortung übernehmen müssen. Gerade auf Deutschland werden größere Beiträge zukommen. Deutschland wird den Wehretat erhöhen müssen. Das kann nur über Neuverschuldung, Steuererhöhungen oder Umverteilung zulasten des Sozialhaushaltes gehen.

Wird Trump seinen polternden Stil als Präsident beibehalten?

Trump wird schon seinen Wählern zuliebe Trump bleiben. Er wird nicht der Präsident sein, der dicke Bretter bohrt und langfristige Strategien verfolgt, und feststellen, dass alles nicht so schnell geht, wie er sich das vorstellt. Auch seitens der Wähler wird es einen Ernüchterungsprozess geben. Deshalb vermute ich, dass es keine zweite Amtszeit geben wird.

Wird der Brexit 2017 vollzogen?

Warten wir mal ab, ob er überhaupt vollzogen wird. Da Großbritannien keine geschriebene Verfassung hat, war bereits die Eröffnung des Verfahrens strittig. Es wird am Ende auf einen Kompromiss hinauslaufen, der zwar Brexit genannt wird, aber kein radikaler Austritt ist. Die Briten werden im Binnenmarkt bleiben.

Wird die Rechtspopulistin Marine Le Pen Präsidentin in Frankreich?

Wenn Frau Le Pen Präsidentin würde, wäre die EU am Ende. Frankreich ist ein großes Land, ein Teil Kerneuropas, EU-Gründungsmitglied. Le Pen wird gegen den bürgerlichen Kandidaten Fillon in die Stichwahl kommen, der dann mit den Stimmen der Linken im zweiten Wahlgang gewinnt – wie jüngst in Österreich.

Henrich Wilckens will wissen: Kommt 2017 die nächste Flüchtlingswelle – ausgelöst durch die Türkei oder andere Länder?

Die Migrationsursachen bestehen weiterhin. Das globale Bevölkerungswachstum ist immens. Ich habe in der Schule gelernt, dass die Weltbevölkerung bei dreieinhalb Milliarden Menschen liegt, jetzt gehen wir auf acht Milliarden bei steigender Lebenserwartung zu. Das hat die Konsequenz, dass es in vielen Ländern für die Jugend keine Zukunftschancen gibt. Kriege und Bürgerkriege wie in Syrien oder Afghanistan sind nur ein zusätzlicher Faktor. Die Fluchtroute über die Türkei ist mit dem Abkommen geschlossen, was Präsident Erdogan in eine starke Verhandlungsposition gebracht hat.

Ähnliches wird mit Ägypten verhandelt. Die Gründe für die Migration bestehen aber weiter – aus Afrika nach Europa, aus Lateinamerika in die USA und aus Südostasien nach Australien. Der Druck wird eher noch steigen, so dass die Abwehrmaßnahmen in den Zielstaaten weiter zunehmen. Die Anrainerstaaten des Mittelmeeres werden Geld erhalten, damit die Flüchtlinge vor Ort in den Lagern bleiben.

Wie wird sich der Streit der EU und Deutschlands mit der Türkei und Präsident Erdogan entwickeln?

Die Türkei hat es offenbar aufgegeben, Mitglied der EU zu werden. Die politische Zurückhaltung, die die Türkei in der Vergangenheit an den Tag gelegt hat, ist somit hinfällig geworden. Sein Druckpotenzial in der Flüchtlingsfrage wird Erdogan weiter ausspielen, so dass die Bundesregierung weiter lavieren muss.

Wird die Terrormiliz IS in Syrien und dem Irak weiter zurückgedrängt werden können?

Mossul im Irak galt fast als rückerobert. Jetzt hört man nichts mehr davon. Auch hier spielt die Türkei eine wichtige Rolle. Der IS finanziert sich über Schutzgeld und den Verkauf von Öl aus den Feldern, die er kontrolliert, über die türkische Grenze. Da haben viele Türken mitverdient. In dem Maß, wie der IS zurückgedrängt wird, wächst der Einfluss der Kurden im Irak und in Syrien, was nicht im türkischen Interesse sein kann.