Stuttgart. Einer der Träger des Projekts, Jürgen Wurmthaler von der Region Stuttgart, wirbt für den Weiterbau des umstrittenen Bahnhofs. Doch Planungsfehler und eine Kostenexplosion nähren die Zweifel an Deutschlands Großprojekten. Dienstag fällt die Entscheidung.

Diese Computeranimation der Bahn soll das Projekt „Stuttgart 21“ veranschaulichen. Stuttgart wäre kein Kopfbahnhof mehr, die Züge könnten auf Gleisen in der Tiefe durchfahren.
Diese Computeranimation der Bahn soll das Projekt „Stuttgart 21“ veranschaulichen. Stuttgart wäre kein Kopfbahnhof mehr, die Züge könnten auf Gleisen in der Tiefe durchfahren. © DB AG/Next Edit

Von „Kalkulationsabweichungen“ in Höhe von 1,1 Milliarden Euro sprach im Dezember 2012 der Bahn-Vorstand, als er den Aufsichtsrat über die Mehrkosten des Projekts Stuttgart 21 informierte. Der Finanzierungsbedarf erhöhte sich somit auf 5,6 Milliarden Euro. Hinzu kommen „Risiken“ in Höhe von bis zu 1,2 Milliarden Euro. Die Gesamtkosten könnten also auf 6,8 Milliarden Euro ansteigen. Die Hauptgründe für die Kostenexplosion: Planungsfehler und der zeitliche Verzug.

So müssen Leistungen, die bei der Kalkulation vergessen worden waren, noch berücksichtigt werden – beispielsweise anfallende Gebühren. Auch Preissteigerungen bei den Materialien sowie zuvor nicht berücksichtigte Grundstückskosten schlagen zu Buche. Nachforderungen Dritter und die Folgen von Fehlplanungen kommen hinzu. Der Bahnvorstand führt zudem Zugeständnisse aus dem Bügerdialog und Schlichtungsverfahren an. Allein die Verzögerung des Projekts nach anhaltenden Protesten sei ein Kostentreiber.

Die Kosten für Stuttgart 21

Bei der Aufsichtsratssitzung am Dienstag soll jetzt entschieden werden: Wird Stuttgart 21 weitergebaut oder abgebrochen. Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) und Bahnchef Rüdiger Grube bekannten sich diese Woche zum Weiterbau. Ihr stärkstes Argument: Der Ausstieg würde zwei Milliarden Euro kosten. „Es sind in erheblichem Ausmaß Aufträge erteilt worden. Dass man da nicht mehr rauskommt, ohne dass es Kosten verursacht, ist klar“, erläuterte gestern Jürgen Wurmthaler, Leitender Direktor für Infrastruktur bei der Region Stuttgart, gegenüber unserer Zeitung. Die Region zählt zu den Trägern des Großprojekts. Zudem wurde viel in die Planung investiert. Und es laufen bereits Baumaßnahmen, die nicht langfristig brachliegen können. Wurmthaler hält es für „realistisch“, dass ein Abbruch zwei Milliarden Euro kosten würde.

„Wenn man etwas begonnen hat, dann sollte man es auch fertigstellen.“
Jürgen Wurmthaler, Region Stuttgart, zur Debatte über ein Stuttgart-21-Aus

Es gibt hier allerdings – wie bei vielen Aspekten von Stuttgart 21 – auch andere Meinungen. Die Ausstiegskosten seien nie seriös ermittelt worden, sagte etwa Toni Hofreiter (Grüne) gegenüber der Frankfurter Rundschau. Der Vorsitzende des Bundestags-Verkehrsausschusses erläuterte, ein Großteil der von der Deutschen Bahn genannten Ausstiegskosten bestehe aus simplen Rückzahlungen von Geld, das Stadt, Land und Bund einst dem Staatsunternehmen gezahlt hätten: „Das sind ja keine echten Kosten.“ Lediglich 427 Millionen von den nun angenommenen Gesamtkosten seien tatsächlich ausgegeben worden, der Ausstieg werde nicht mehr als 600 Millionen Euro kosten. Hofreiter: „Und dann bleibt Stuttgart immer noch sein Kopfbahnhof, heute einer der pünktlichsten Hauptbahnhöfe Deutschlands.“

„Einer der pünktlichsten Hauptbahnhöfe Deutschlands“

Warum nur, so stellt sich hier die Frage, sollte ein angeblicher Vorzeigebahnhof überhaupt durch einen neuen ersetzt werden?

Christoph J. Menzel ist Professor für Verkehrskonzepte und Angebotsplanung im öffentlichen Verkehr der Fachhochschule Ostfalia in Salzgitter-Calbecht. Er arbeitete zuvor in Konstanz und befasste sich unter anderem mit der verkehrlichen Anbindung des Bodensee-Raums an Stuttgart.

Verbessert werde diese Anbindung nicht durch Stuttgart 21 – zwar würden 300 Millionen Euro in die entsprechende Gleisstrecke investiert, doch der Gewinn bei den Fahrtzeiten werde durch den künftigen Umweg über den Flughafen wieder aufgefressen.

Der Verkehrsexperte Menzel kritisiert das mit Stuttgart 21 verbundene Streckenkonzept, zu dem als zentrales Projekt die Modernisierung der Verbindung Stuttgart-Ulm gehört. Aus nationaler Perspektive sei es viel sinnvoller, die auch für Menschen aus unserer Region wichtige Strecke nach Frankfurt zu modernisieren, so Menzel. Ab Fulda müssten die ICE auf 120 Stundenkilometer runterbremsen.

Der Ostfalia-Professor ist indes davon überzeugt, dass der Umbau des Stuttgarter Bahnhofs erforderlich ist: „Die Auflösung des Kopfbahnhofs ist richtig“, sagt er.

Seine Erklärung: Deutschland kann sich im Süden zwei Kopfbahnhöfe erlauben, das sind München und Frankfurt – diese lassen sich gut ins Fernzug-Netz integrieren, zumal sie oft Endstation sind. Ein dritter ist hingegen nicht mehr verkraftbar, die Zeitverluste werden zu groß. Menzel: „Stuttgart hängt dazwischen. Wenn man im Fernverkehr München und Frankfurt bedient, ist es gar nicht anders möglich, als Stuttgart rauszulassen.“ Dieses war die zentrale Idee von Stuttgart 21: Der Kopf- muss durch einen Durchgangsbahnhof ersetzt werden. „Die besseren Verbindungen, die möglich werden, sind für das deutsche Gesamtnetz dienlich.“

Ein weiterer Kostentreiber ist die Verlegung des Bahnhofs in die Tiefe, die die Weiterführung der Gleise erleichtert. Die Stadt Stuttgart will so auch städteplanerisch einen großen Wurf landen: Da, wo heute noch die Gleise liegen, sollen attraktive Immobilienplätze entstehen. Viel Platz für Konzernsitze und Penthouse-Wohnungen.

Professor Menzel will angesichts der komplexen Gemengelage lieber kein Votum pro oder contra Stuttgart 21 abgeben. Ein Gesichtspunkt ist ihm aber wichtig: „Es wurden massive Fehler gemacht, Gutachten unterschlagen. Da gibt es schon fast kriminelle Züge. Und dann war auch noch die Bürgerbeteiligung miserabel – wenn Großprojekte in Deutschland unter solchen Bedingungen verwirklicht werden, sollte man lieber auf sie verzichten.“

Jürgen Wurmthaler von der Region Stuttgart räumt ein: „Es gibt hier keine Jetzt-ziehen-wir-das-einfach-durch-Stimmung. Es wurden Fehler gemacht und wir haben jetzt ein Gespür für die besondere Verantwortung, mit der wir dieses Projekt weiter begleiten müssen.“ Ein Abbruch ist für ihn ausgeschlossen: „Wenn man etwas begonnen hat, dann sollte man es auch fertigstellen.“ Schließlich sei das Geld bei einer Fortführung nicht umsonst ausgegeben, man bekomme ja etwas dafür. „Wenn man es absagt, dann hat man nichts.“

Die Region Stuttgart hat Glück: Anders als das Land Baden-Württemberg und die Stadt Stuttgart ist sie nicht an dem Risikotopf beteiligt – unter Berufung auf diesen bereitet die Bahn bereits eine Klage gegen die Stadt und das Land vor, um diese zur Beteiligung an den Mehrkosten zu zwingen. Wurmthaler warnt vor neuen Verzögerungen: „Mit jedem Monat, den es nicht vorangeht, wird das Projekt noch teurer.“

Bleibt die Frage, ob die Kostensteigerung nicht vorhersehbar gewesen wäre. Laut Bundesrechnungshof wusste die Bundesregierung schon lange, dass die Kosten für Stuttgart 21 aus dem Ruder laufen. Die Rechnungsprüfer hatten schon 2008 prognostiziert, dass das Bahnprojekt mindestens 5,3 Milliarden Euro kosten werde. Der Präsident des Rechnungshofs, Dieter Engels, erklärte unserer Zeitung: Diese Prognose habe sich damals „im Wesentlichen auf Erkenntnisse gestützt, die auch dem Bundesverkehrsministerium vorlagen“.

STUTTGART 21

Die „Sprechklausel“ macht die Bahn geltend, um mit ihren Partnern über zusätzliche Kosten und Risiken von bis zu 2,3 Milliarden Euro zu verhandeln. Diese im Finanzierungsvertrag stehende Regelung verpflichtet die Projektpartner aus Sicht der Bahn zur weiteren Beteiligung an den Kosten. Aus Sicht des Landes Baden-Württemberg und der Stadt Stuttgart verpflichtet die Klausel aber nur zu Gesprächen. „Sprechen ist nicht zahlen“, so Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne). Ein Rechtsstreit steht bevor.