Braunschweig. Während wir den Sommer genießen, flüchten Menschen in der Ukraine in die Bunker. Texte der Jugendredaktion Streetwords.

BITTER VERMISCHT SICH MIT SÜSS

Mette Springer

Die Alarmsirenen tönen, es ist Krieg. Krieg, während ich hier in der Sonne sitze, das Rauschen der Stimmen um mich herum in den Ohren. Krieg, während das Eis auf meiner Zunge zergeht. Bitter vermischt sich mit süß.

So grausam ist sie. Die Gleichzeitigkeit der Dinge.

In den Nachrichten: Schrecken und ständig mal checken, ob gerade wieder eine schreckliche Befürchtung Realität geworden ist. Unter dem Tisch. Um mich herum das Treiben der Leute, die singen und mit prickelnden Getränken auf das Wohl meines Vaters anstoßen. Bitter vermischt sich mit süß. So grausam ist sie. Die Gleichzeitigkeit der Dinge.

Jubel und Applaus. Hier im ausverkauften Haus, während sich Darsteller*innen verneigen. Glücklich und stolz strahlende Gesichter zeigen, welche das Publikum dankbar spiegelt, während ein anderes Theater in Trümmern liegt. Getroffen aus der Luft und zum Ort des Grauens geworden. Bitter vermischt sich mit süß. So grausam ist sie. Die Gleichzeitigkeit der Dinge.

Wartend an der Grenze. Sorge und Angst in den Augen. Unbegreiflich das Geschehen, unvorhersehbar der Aggressor. Während mir vom Fahrtwind die Augen tränen. Das Rad fahrend in der lauen Abendluft Richtung nach Hause. Bitter vermischt sich mit süß. So grausam ist sie. Die Gleichzeitigkeit der Dinge.

Zwischen den Realitäten. Krieg und Zerstörung. Freude und Glück. Lachen und weinen. Bitter vermischt sich mit süß. So grausam ist sie. Die Gleichzeitigkeit der Dinge. Während ich diese Worte hier schreibe.

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DIE WETTE UM EINEN KASTEN BIER

Lina Probst

Ein paar Tage vorher: Wir gehen um einen See spazieren. Du erzählst von zwei Kumpels. Sie haben darum gewettet, wann Putin in die Ukraine einmarschiert. Nicht ob, sondern wann. Ich frage nach dem Einsatz. Du antwortest: „ein Kasten Bier“. Wir finden das geschmacklos.

Einen Tag vorher:

Ich muss an deine Kumpels denken. An ihre Wette. Den Kasten Bier wird keiner gewinnen, davon bin ich überzeugt. Putin? „Der marschiert doch nicht in die Ukraine ein“, sage ich und du nickst zustimmend.

Der erste Tag:

Wann beginnt der Krieg? Eine geschmacklose Wette.
Wann beginnt der Krieg? Eine geschmacklose Wette. © dpa | Symbolfoto: Peter Endig

Ich wache auf, und es ist Krieg. Im Flur begegnet mir meine Mitbewohnerin. In ihren Augen spiegelt sich mein fassungsloses Gesicht. Politiker*innen sagen, es ist Krieg in Europa. Und während ich mein Müsli esse, werden in naher Ferne Raketen abgeschossen.

Der dritte Tag:

Wir sammeln: Pullover, Binden, Powerbanks. Aus hilfloser Verzweiflung. Wir gehen auf Demos: Die ganze Stadt trägt die Farben Gelb und Blau, die Farben hilfloser Verzweiflung. In den Redebeiträgen geht es um Frieden: Frieden, aber ohne Waffen. Manche klatschen, andere zögern. Und ich weiß nicht mehr, was ich denken soll. In meinem Kopf finde ich nur hilflose Verzweiflung.

Der zehnte Tag:

Ich wache auf, und es ist immer noch Krieg. Acht Uhr morgens, ich lese den Ticker auf der Tagesschau-App. Stehe jeden Tag auf und glaube, dass es vorbei ist. Stehe jeden Tag auf und kann nicht glauben, dass es nicht vorbei ist. Drei Uhr nachmittags, ich lese immer noch den Ticker auf der Tagesschau-App. Aktualisiere den Feed, obwohl schon seit einer Stunde nichts Neues mehr kommt.

Der zwanzigste Tag:

Ich schaue das Tik-Tok-Video einer Ukrainerin. Betrachte ihr Leben im Bunker auf dem kleinen Handybildschirm. Das Leben einer Fremden, die sich wie eine Freundin anfühlt. Betrachte zerstörte Häuser, betrachtete ihre Familie, betrachte ihren Alltag. Bin irgendwie bei ihr, irgendwo in diesem Krieg.

Der fünfunddreißigste Tag:

Meine Tagesschau-App ist deinstalliert. Um vor einem Krieg zu flüchten, in dem so viele Menschen schon gestorben sind. Sie konnten nicht wegsehen, vielleicht auch nicht weggehen. Aber ich kann nicht mehr hinsehen.

Der neununddreißigste Tag:

Wir vergleichen. Wir vergleichen Geflüchtete. Wir entscheiden. Wir entscheiden über Menschen, über Werte, über Grenzen. Wir bewerten. Wir bewerten Hautfarben und müssen uns fragen: Wird willkommen bei uns nur weiß geschrieben?

Viele Tage später:

Wir gehen um einen See spazieren. Die Sonne scheint, und der Himmel ist wolkenlos. Es ist sommerlich warm, woanders ist gerade Krieg, aber wir sind inzwischen abgestumpft, haben uns daran gewöhnt. Du erzählst von zwei Kumpels. Sie haben um irgendwas gewettet. Ich frage nicht nach dem Einsatz.

Das Bier in meiner Hand? Geschmacklos.

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