Wolfsburg. 1206 Menschen verließen 2022 die Kirche. So beurteilen Superintendent Berndt und Dechant Hoffmann die Situation in Wolfsburg.

Immer mehr Wolfsburgerinnen und Wolfsburger treten aus der Kirche aus. 1206 Menschen waren es nach Angaben der Stadt Wolfsburg in 2022 – und damit 282 mehr als 2021 und so viele wie noch nie in den vergangenen zehn Jahren (siehe Grafik). 838 Menschen hatten die evangelisch-lutherische Religionszugehörigkeit, 368 die römisch-katholische. Die evangelische Kirche in Wolfsburg hat mit 35.889 deutlich mehr Mitglieder als die katholische mit 18.466 (Stand 31.12.2022).

1206 Wolfsburger traten 2022 aus der Kirche aus

Warum kehren immer mehr Menschen der Kirche den Rücken? Was tun die Kirchen, um ihre Mitglieder zu halten oder gar zurückzugewinnen? Wir baten Dechant Thomas Hoffmann vom katholischen Dekanat Wolfsburg-Helmstedt und Superintendent Christian Berndt vom evangelisch-lutherischen Kirchenkreis Wolfsburg-Wittingen um Antworten.

Kirchenaustritte Wolfsburg von 2013 bis 2022
Kirchenaustritte Wolfsburg von 2013 bis 2022 © Jürgen Runo

Wer aus der Kirche austreten will, kann das mit wenigen Unterschriften und ohne Begründung bei der Stadt Wolfsburg tun. Pfarrer Thomas Hoffmann nennt gleich mehrere Gründe, die zu Kirchenaustritten führen: „Zuallererst die großen Fehler, die wir bei der zögerlichen Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt gemacht haben. Unsere moralische Glaubwürdigkeit hat, großkirchlich betrachtet, sehr darunter gelitten. Das ist ein Hauptgrund für Kirchenaustritte.“ Die gute Präventionsarbeit finde hingegen leider kaum Beachtung.

Diese Gründe nennt Dechant Hoffmann für Kirchenaustritte

Weiterhin sei ein Relevanzverlust der Kirchen festzustellen. „Wir verlieren seit Jahren in der Gesellschaft an Bedeutung, wenngleich unsere sozialen Werke wie die Caritas sehr geschätzt werden, weil sie gute und wichtige soziale Arbeit leisten und vielen Menschen in Not beistehen. Unsere Kitas und Schulen sind sehr beliebt und haben einen guten Ruf. Auch viele Aktivitäten auf der Ebene von Gemeinden, zum Beispiel der Mittagstisch, leisten hervorragende und anerkannte Arbeit für Menschen in Notlagen.“

Superintendent Christian Berndt (links) und Dechant Thomas Hoffmann analysieren die Kirchenaustritte in Wolfsburg.
Superintendent Christian Berndt (links) und Dechant Thomas Hoffmann analysieren die Kirchenaustritte in Wolfsburg. © regios24 | Anja Weber

Als weitere Gründe nennt Hoffmann die Inflation, („Viele Menschen müssen mehr rechnen“), eine Entfremdung von der Kirche als schleichender Prozess und den demografischen Wandel, also mehr Todesfälle als Taufen. Auch die Pandemie habe eine Rolle gespielt, meint Hoffmann. „Corona hat unsere Kirchenroutine durcheinandergewirbelt und unsere Kirchen leerer gemacht. Das Virus hat einen Trend beschleunigt. In den letzten Wochen ist allerdings zu bemerken, dass die Kirchen wieder deutlich voller werden, was mich sehr freut.“

Kirchenkreis Wolfsburg-Wittingen verlor 1409 Mitglieder

Der Kirchenkreis Wolfsburg-Wittingen habe in den vergangenen Jahren durchschnittlich ungefähr 2,5 Prozent seiner Mitglieder verloren. In 2022 seien es sogar 2,75 Prozent gewesen. 49.970 Menschen gehörten damit seit Jahresbeginn zur evangelisch-lutherischen Kirche in unserer Region, 1409 weniger als vor einem Jahr.

„Meine persönliche Einschätzung ist, dass im Jahr 2022 die massiv gestiegenen Lebenshaltungskosten ein gewichtiges Zünglein an der Waage waren“, sagt Superintendent Christian Berndt. Skandale in der Kirche, wenig Kontakt zur örtlichen Kirchengemeinde und politische Äußerungen von Kirchenvertretern, die nicht den eigenen entsprechen, trügen auch zu Austrittstendenzen bei.

Jeder Kirchenaustritt wirke sich eins zu eins auf die Gesellschaft aus, so Berndt. Weniger Kirchenmitglieder bedeute weniger Geld für die Kernaufgaben der christlichen Kirchen – Gottesdienste und andere spirituelle Angebote, aber auch seelsorgerliche Angebote wie die Notfall-, Krankenhaus-, Altenheim- oder Telefonseelsorge. „Der Großteil unserer Arbeit ist direkt gesellschaftsstabilisierend“, unterstreicht Berndt.

Superintendent Berndt: 10-Uhr-Gottesdienst am Sonntag nicht das, was viele sich wünschen

Der Auftrag als Kirche, die Menschen auf ihrem Lebensweg zu begleiten, werde angesichts einer sich stark verändernden Gesellschaft nicht einfacher, so der Superintendent. „Wir müssen ausloten, was Menschen heute, jetzt von uns brauchen und erhoffen. Wir haben die Verantwortung dafür, neu auf Menschen zuzugehen, ihnen neue, dem Heute gemäße spirituelle Angebote zu machen“, sagt Berndt und nennt ein konkretes Beispiel: „Der 10-Uhr-Gottesdienst am Sonntagmorgen ist nicht mehr das, was viele sich wünschen. Da müssen wir umdenken und dorthin gehen, wo die Menschen stehen.“

Diese Reaktionen bekommt Pfarrer Hoffmann auf seine Briefe

Dechant Thomas Hoffmann schreibt jedem ausgetretenen Gemeindemitglied einen Brief und macht ein Gesprächsangebot. „Es geht darum, respektvoll auseinanderzugehen, eine gemeinsame Geschichte zu beenden und sich weiterhin ins Gesicht schauen zu können“, erläutert der Pfarrer. In letzter Zeit habe er auf seinen Brief auch häufig Reaktionen bekommen. „Oft wird deutlich, dass die Menschen weiterhin gläubig sind und oftmals gute Erfahrungen in früheren Jahren mit der Kirche gemacht haben. Manche Menschen erzählen mir, dass sie sehr mit dieser Entscheidung gerungen haben. Ich wurde auch schon einige Male gefragt, ob man wieder in die Kirche eintreten kann, wenn sie sich verändert hat, was ich selbstverständlich immer bejahe.“

Die katholischen Pfarrgemeinden St. Christophorus (12.570), St. Michael (5868) und St. Marien (3946) haben zusammen 22.384 Mitglieder. Im Vorjahr waren es 604 mehr. Das Pfarrgebiet der drei Pfarreien ist größer als das Stadtgebiet von Wolfsburg, so gehören unter anderen auch Velpke, Tappenbeck oder Rühen dazu. „Wir bemühen uns, gute Gemeindearbeit zu machen und Menschen Heimat im Glauben anzubieten“, sagt Hoffmann und verweist auf 180 Erstkommunionen im Vorjahr.

Jeder Austritt schmerzt, sagt Superintendent Berndt

Noch immer sei in Deutschland mehr als jede oder jeder Zweite Christ oder Christin, also katholisch, evangelisch, freikirchlich oder orthodox, hebt Berndt hervor. „Jede andere Organisation hierzulande wäre über einen derartigen Zuspruch hocherfreut. Das soll die Verluste an Mitgliedern nicht schönreden. Jeder Austritt schmerzt. Aber wir befinden uns weder in unserer Region noch in ganz Deutschland in einem entkirchlichten Land“, so der Superintendent abschließend.

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