Wolfsburg. Die Telefonseelsorge in Wolfsburg hat 2022 mehr als 8000 Gespräche geführt. Ehrenamtliche werden gesucht. Doch sie müssen Bedingungen erfüllen.
Es ist weit nach Mitternacht. Die meisten Wolfsburger schlafen. Nur Heike B. wälzt sich im Bett hin und her, die Gedanken im Kopf kreisen, kommen nicht zur Ruhe, der Puls rast, der Blick aus dem Fenster offenbart nur Schwärze. Die 80-Jährige greift zum Telefonhörer – das Gespräch mit der Ehrenamtlichen der Telefonseelsorge ist das erste, das die Rentnerin seit Wochen mit einem anderen Menschen führt.
„Einsamkeit, familiäre Konflikte, Existenzsorgen und -nöte, aber auch persönliche Krisen generell bis hin zu Suizid-Gedanken sind die Top-Themen des vergangenen Jahres“, sagt Verena Altenhofen, Leiterin der Telefonseelsorge in Wolfsburg. 22,1 Prozent der Anrufer hatten 2022 das Thema Einsamkeit und Isolation auf der Agenda, mit jeweils 16 Prozent folgten die Themen familiäre Beziehungen und körperliche Beschwerden.
In den sechs Telefonseelsorge-Stellen in der hannoverschen Landeskirche, zu der auch Wolfsburg zählt, wurden im vergangenen Jahr insgesamt 46.000 seelsorgliche Gespräche am Telefon geführt. Hinzu kamen 3500 Gespräche im Chat sowie 1800 Kontakte per Mail; außerdem sogenannte Aufleger und Schweigeanrufe.
Anonymität wird bei der Telefonseelsorge gewahrt
Alleine in der VW-Stadt wurden über 8000 Telefongespräche geführt, 700 Mails beantwortet und 350 Chats geführt. Im Schnitt benötigt ein Anrufer zehn bis zwölf Versuche, bis er einen Gesprächspartner am anderen Ende der Strippe hat. Besonders in den Abendstunden nach 17 Uhr und in der Nacht ist der Bedarf groß. „Wenn ich den Hörer aufgelegt habe, dauert es keine fünf Minuten, bis der nächste Anrufer in der Leitung ist“, weiß eine Ehrenamtliche.
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Die 70 Wolfsburger Ehrenamtlichen der Telefonseelsorge haben rund um die Uhr ein offenes Ohr für Anrufer. In Gesprächen über Einsamkeit, das marode Gesundheitssystem oder Freitodgedanken bleibt die Anonymität immer gewahrt. Dies gilt auch für Chats und Mails. Es werden weder Namen genannt, weder die des Ehrenamtlers noch die des Anrufers, noch wird der Wohnort bekannt. Denn es kommen nicht nur VW-Städter „durch die Leitung“, sondern Anrufer aus ganz Niedersachsen.
Schriftlich fallen Hemmschwellen
„Mit unserem Pool schaffen wir es derzeit aber leider nicht, 24 Stunden an sieben Tagen abzudecken. Die Telefone in Wolfsburg sind nur zu 70,80 Prozent der Tageszeit besetzt“, erläutert Verena Altenhofen. Jeder „Diensthabende“ absolviert eine Vier-Stunden-Schicht. Danach findet eine Übergabe statt. Oberstes Ziel: keine Ratschläge erteilen, sondern einfühlendes Verstehen zeigen. Die 43-Jährige erklärt: „Wir sehen den Menschen in seiner Krise, mit seinem Problem. Wir unterscheiden nicht zwischen Opfern und Tätern.“
Der Weg zur Telefonseelsorge:
- Die Telefonseelsorge Wolfsburg sucht Menschen, die ab Ende Januar an einer Ausbildung für dieses Ehrenamt teilnehmen (ein späterer Einstieg ist möglich). Die Grundausbildung dauert 12 Monate und umfasst Abendtermine (alle 14 Tage, 3,5 Stunden) sowie Blockveranstaltungen am Wochenende, insgesamt 120 Stunden. Es entstehen keine Kosten.
- Ein erster Kennlerntag findet am Samstag, 28. Januar, von 10 bis maximal 16 Uhr im Schulungsraum der Diakonie im Erich-Bammel-Weg 3 statt.
- Das wird erwartet: Übernahme von im Schnitt 16 Stunden in einem Monat (acht Nachtdienste im Jahr, drei Tagdienste im Monat); Mitarbeit für mindestens drei Jahre nach Abschluss der Grundausbildung; Einhaltung der Schweigepflicht und die Wahrung der Anonymität der Anrufer.
- Der Anruf der Telefonseelsorge ist kostenlos und anonym: 0800 1110111 oder 0800 1110222. Die Gespräche mit den ausgebildeten Telefonseelsorgern sind vertraulich und das Angebot gilt unabhängig von Religionszugehörigkeit und Nationalität. Auch über Mail und Chat ist der Kontakt täglich rund um die Uhr möglich. Infos auf der Homepage www.telefonseelsorge.de.
Gerade im Bereich Mail und Chat fallen oft sämtliche Hemmschwellen, „da geht’s zur Sache“. Wenn es von dem Anrufer im Laufe des Gespräches gewünscht sei, würden die Seelsorger Impulse geben und eventuell werde gemeinsam eine Strategie fürs Weitermachen entwickelt. Der Anrufer sei „immer der Chef“. „Es geht nie darum zu kritisieren, sondern immer darum, die Gefühle der Anrufer, die Empfindungen, die hinter allem stehen, wahrzunehmen und zu spiegeln. So nach dem Motto: ,Ich hätte eine Idee dazu, wollen Sie die hören?‘“, verdeutlicht die Sozial- und Religionspädagogin, der bewusst ist, dass sie meistens nur dieses eine einzige Gespräch hat, „man sich danach nie wieder hört“.
Telefonseelsorge als praktizierte Nächstenliebe
„Ich freue mich immer, wenn es mir gelingt, einem Anrufer, der zu Beginn des Gespräches noch verzweifelt geklungen, vielleicht sogar geweint hat, am Ende des Telefonates ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern“, betont eine für die Telefonseelsorge Tätige, die das Ehrenamt ausführt, weil es für sie „praktizierte christliche Nächstenliebe“ darstellt – und weil sie von dem eigenen Glück, der eigenen Gesundheit, die sie erfahren hat, etwas zurückgeben möchte.
„Ich versuche, mit dem Anrufer gemeinsam auf das Schöne im Leben zu schauen, denn das ist ja immer auch vorhanden. Ich lasse mir – gerade bei Einsamen – oft Geschichten aus deren Leben erzählen. Ich weiß ja, dass ich manchmal deren einziger Lichtblick am Tag bin“, ergänzt eine andere Ehrenamtliche der Telefonseelsorge.
Übrigens: Sämtliche Ehrenamtler erhalten 14-tägig eine Supervision, werden also mit dem Erlebten nie alleine gelassen. „Unsere Mitarbeiter nehmen selten das mit nach Hause, was sie belastet“, versichert Verena Altenhofen.