Wolfsburg. Leitsystem für Blinde und Gehörlose, Barrierefreiheit in allen Einrichtungen, Fahrstühle, die funktionieren – es gibt viel zu tun in Wolfsburg.

Seit 2020 sind Janine Ehrlich (44) und Yannik Spyra (31) das Duo an der Spitze des Beirates für Inklusion und Teilhabe (BIT). In der Pandemie – zumindest im öffentlichen Wirken – ausgebremst, haben sich die beiden danach wieder voll ins Geschehen eingeschaltet. „Es geht um Sichtbarkeit. Barrierefreiheit und echte Teilhabe, diese Fragen müssen viel mehr als bisher ins öffentliche Bewusstsein“, fordern die beiden. Und setzen dabei auch darauf, dass die Teilnahme Wolfsburgs am Gastgeberprogramm für die Specialolympics, die 2023 in Berlin stattfinden, die Sache etwas beschleunigt.

Keine der Toiletten – hier eine der älteren, wurden so gebaut, dass ein Mensch mit Rollstuhl sie nutzen könnte. Zu den Specialolympics soll sich das geändert haben.
Keine der Toiletten – hier eine der älteren, wurden so gebaut, dass ein Mensch mit Rollstuhl sie nutzen könnte. Zu den Specialolympics soll sich das geändert haben. © regios24 | Anja Weber

Vom Leitsystem für Blinde und Gehörlose bis zur Barrierefreiheit in allen Einrichtungen reicht das – und da hat die VW-Stadt noch reichlich Luft nach oben. Das weiß vor allen Dingen Yannik, der aufgrund einer Muskelerkrankung auf den Rollstuhl angewiesen ist. „Wenn zum öffentlichen Bewusstein gehört, dass Menschen mit Behinderungen oftmals den Hintereingang zu einer Behindertentoilette nutzen müssen, läuft doch etwas verkehrt“, kritisiert Spyra. Der 31-Jährige ist Ensemblemitglied im Tanzenden Theater Wolfsburg (TTW). Als eine der Sängerinnen und Tänzerinnen im Fallersleber Schloss heiratete, musste Yannik draußen warten. Auch nach mehr als einem Jahrzehnt langem Ringen um die richtige Fahrstuhllösung fürs historische Schloss ist es Politik und Verwaltung bisher nicht gelungen, Barrierefreiheit zu schaffen. Das gilt auch für die Wasserburg in Neuhaus.

„Es geht ums Miteinander. Alles, was wir erreichen und erkämpfen, ist für alle Menschen – ob mit oder ohne Einschränkungen“, unterstreicht Janine, die in der Schwerbehindertenvertretung von VW arbeitet. „Und wir alle wollen doch mal alt werden. Dann willst du beispielsweise mit deinem Rollator Zugang zu Gebäuden haben. Und man sieht und hört vielleicht nicht mehr richtig. Dann braucht es ein Leitsystem.“

Janine und Yannik haben sich kennengelernt, als es darum ging, dass der Arbeitsplatz des jungen Informatikers bei VW umgestaltet werden musste. Die Chemie stimmte auf Anhieb, kurze Zeit später wurde an sie der Wunsch herangetragen, sich im Behindertenbeirat der Stadt zu engagieren. „Das musste gut überlegt werden, es ist ja alles ehrenamtlich“, schildern die beiden. „Es ist gut, dass man gar nicht weiß, was wirklich alles auf einen zukommt. Denn es ist eigentlich ein Vollzeitjob.“ Unter anderem ist im BIT auch die „Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung“, zu der Vollzeitkräfte gehören, angesiedelt.

Schloss Fallersleben: Bisher gibt es den Fahrstuhl nur in einer Animation. Der neue Rat will das Thema wieder aufgreifen. Nach zehnjähriger Debatte.
Schloss Fallersleben: Bisher gibt es den Fahrstuhl nur in einer Animation. Der neue Rat will das Thema wieder aufgreifen. Nach zehnjähriger Debatte. © Privat

Von der Spielplatzgestaltung bis zur Barrierefreiheit im Wohnraum reichen die Fragen, die die beiden beschäftigen. Janine sitzt im Sozialausschuss, Yannik im Bauausschuss. Er unterstreicht: „Barrierefreiheit muss in der Planung von Gebäuden mitgedacht werden. Und nicht hinterher.“

Janine hat in einer Apotheke ihre Ausbildung gemacht, wechselte dann zu VW in den Karosseriebau und später für lange Zeit in die VW-Besucherdienste. „Da hast du es mit so viel unterschiedlichen Gruppen und Menschen zu tun, nicht wenige davon mit Behinderungen und Einschränkungen. Man lernt viel, vor allen Dingen über das, was sich ändern muss. Zum Beispiel auch, dass zu viele Menschen Berührungsängste haben. Aufeinander zugehen, das ist das Wichtigste.“ In der Schwerbehindertenvertretung, in der sie heute arbeitet, kämpft sie darum, dass die Arbeitsplatzgestaltung von Beginn an inklusiv ist.

Yannik, der bei Volkswagen Systemanalytiker ist, hat vor allen Dingen eines festgestellt – dass manches schon erreicht, aber vieles noch zu tun ist. In Wolfsburg und in Deutschland. Nach einer Reise nach New York kürzlich kommt er zu folgendem Fazit: „Zugang gibt es dort in viele Einrichtungen, Barrierefreiheit und Inklusion werden mitgedacht. Und dann kommst du in Frankfurt im Flughafen an, machst dein Handy an und hörst als erstes auf der Box, dass der Wagen vom ICE, im dem du Deine Rollstuhlreise angemeldet hast, einen technischen Defekt hat.“ In Deutschland sei eben manches anders ...

Dass zu den Specialolympics, den großen inklusiven olympischen Spielen, die 2023 in Berlin stattfinden, am Allersee der Badesteg ins Wasser fertig sei, davon dürfe man sicherlich ausgehen, sagt Yannik. Und Janine fügt an: „Auch da muss wieder klar werden: Es ist eine Sache, die dann von allen Menschen gemeinsam genutzt wird. Es geht ums Miteinander.“ Wolfsburg empfängt als Gastgeberin eine Teilnehmerdelegation der Spiele in der Hauptstadt. Es geht in den bundesweiten Hosttowns darum, dass sich Deutschland als Gastgeberland auch abseits der Titelkämpfe in Berlin inklusiv und überzeugend darstellt.

Stichwort Miteinander: BIT lädt für Sonntag, 4. September zum Familienlauf am Allersee ein. Strecke: Zwei Kilometer. Pro Runde werden fünf Euro für den guten Zweck gesammelt. Partner der Veranstaltung sind BIT, VfL, IG Metall, Lebenshilfe. Derzeit wird noch eifrig am Programm gestrickt, das es rund um den Lauf geben soll. Start und Ziel ist der Kolumbianische Pavillon. Beginn ist um 10 Uhr. „Man kann laufen, gehen, mit dem Rollator antreten, in der Familie oder allein. Alles ist möglich“, unterstreichen die beiden. Wer bei der Veranstaltung helfen will, findet sich um 8.30 Uhr als Volunteer am Start ein.

Im Rahmen der Veranstaltung gibt es auch die Möglichkeit, in den BIT, der ein eigenständiger Verein ist, einzutreten. Der Jahresbeitrag für Einzelpersonen liegt bei 20 Euro. Für Gruppen und Institutionen bei 50 Euro pro Jahr. „Wir müssen noch viel, viel mehr werden. Und sichtbarer!“, unterstreichen Janine Ehrlich und Yannik Spyra.