Moskau. Die Kritik am Kreml-Chef wächst – inzwischen auch aus der russischen Elite. Präsident Putin steht unter Druck. Schon bald sind Wahlen.

Der Mythos von Stärke und Unbesiegbarkeit gehört zum politischen Markenkern von Wladimir Putin. Seit seinem Amtsantritt im Jahr 2000 baut der Präsident darauf – und die große Mehrheit der russischen Gesellschaft erwartet, dass er mit harter Hand regiert. Doch im Zuge der „Spezialoperation“ in der Ukraine hat der Mythos Risse bekommen.

Über ein Jahr lang war er für die Russen weit weg. Jetzt ist der Krieg ganz nah. Vor allem der ständige Beschuss der Grenzregion bei Belgorod durch die Ukrainer „zerstören endgültig den Mythos der Unbesiegbarkeit von Putins Militär“, sagt der Politologe Abbas Galljamow. Der Machtapparat verliere durch nichts so sehr an Rückhalt wie durch die Unfähigkeit, die Menschen zu schützen.

In Belgorod hatten kremlfeindliche Kämpfer nach eigenen Angaben zwischenzeitlich den 5000-Einwohner-Ort Nowaja Tawolschanka komplett unter ihre Kontrolle gebracht. Der Gouverneur von Belgorod, Wjatscheslaw Gladkow, räumte indirekt ein, nicht mehr Herr der Lage zu sein. Und der russische Präsident? Putins Sprecher Dmitri Peskow sagt, die Lage in der Region sei zwar „alarmierend“, aber unter Kontrolle. Vielen Menschen in Russland ist das zu wenig.

Ukraine-Krieg: „Im Verteidigungsministerium herrscht Chaos“

An die Spitze der Kritik setzt sich – wieder einmal – Jewgeni Prigoschin, der Chef der Söldnertruppe Wagner. Er drohte mit dem Einmarsch seiner Leute, sollte das Verteidigungsministerium in Belgorod nicht „schleunigst“ Ordnung schaffen. „In dem Ministerium herrscht Chaos“, so Prigoschin. „Es läuft dort schon eine Eroberung des Gebiets“. Friedliche Menschen würden sterben. Die Bevölkerung brauche Schutz. „Wir werden nicht auf eine Einladung warten.“ Allerdings müsse das russische Militär Munition bereitstellen. „Sonst sitzen wir, wie es heißt, mit dem nackten Arsch auf dem Frost.“

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Ungestraft darf wohl nur der Wagner-Chef das Militär so harsch kritisieren. Andere säßen dafür längst schon auf Jahre im Straflager. Doch Prigoschins Söldner gelten als Erfolgsmodell. Gerade haben sie nach blutigen Kämpfen Bachmut erobert und ihre Stellungen den regulären russischen Truppen übergeben. Seitdem machen ukrainische Truppen wieder leichte Geländegewinne in der Region.

Wladimir Putin muss sich Kritik inzwischen auch aus der russischen Elite anhören.
Wladimir Putin muss sich Kritik inzwischen auch aus der russischen Elite anhören. © AFP | Dmitry Astakhov

Die Verunsicherung vieler auch patriotisch eingestellter Russen wächst spürbar. Neu ist, dass nunmehr auch Kritik aus der Elite kommt. Margarita Simonjan, Chefredakteurin des Staatssenders RT, spricht von Waffenstillstand in der Ukraine, von „Referenden in den umstrittenen Gebieten“. Der frühere Chef der russischen Raumfahrtbehörde Roskosmos, Dmitri Rogosin, verlangt neue Mobilmachungswellen. Ramsan Kadyrow, Anführer der Teilrepublik Tschetschenien, fordert wie Prigoschin die Verhängung des Kriegsrechts, um härter durchzugreifen. Beide warnen vor einer Niederlage Russlands, mit zerstörerischen Folgen für das ganze Land.

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Nur noch 61 Prozent der Russen glauben an Erfolg

Der prominente Duma-Abgeordnete Konstantin Satulin von der Kreml-Partei Geeintes Russland kritisiert ein Versagen auf ganzer Linie. Kein einziges vom Kreml ausgegebenes Kriegsziel sei umgesetzt: weder eine Entmilitarisierung der Ukraine noch deren Neutralität oder der bessere Schutz der Menschen im Donbass. „In welchem der Punkte haben wir ein Ergebnis erreicht? In keinem einzigen“, sagt Satulin, der eigentlich als Befürworter der „Spezialoperation“ gilt.

Doch Putin zögert. Kremlsprecher Peskow betont, weder das Kriegsrecht noch eine neue Mobilmachung würden derzeit diskutiert. Doch daran haben viele Russen inzwischen Zweifel. Die Zustimmung zu Putin ist zwar nach wie vor hoch, doch laut einer Umfrage des unabhängigen Lewada-Instituts glauben 56 Prozent der Befragten, eine zweite Teilmobilisierung würde in den nächsten drei Monaten kommen. Die Befragung wurde Ende April durchgeführt. Schon damals wurde Belgorod aus der Ukraine beschossen.

Bei einer neuerlichen Umfrage im Mai glaubten zwar noch 61 Prozent der Menschen, die „Spezialoperation“ gehe erfolgreich voran. Doch 71 Prozent denken, dass diese noch länger als sechs Monate dauern werde. Drei Prozent mehr als noch im Januar.

Prigoschin mit Häme für Landmaschinen-Fehltritt

Scheinbar hat nun die immer wieder verschobene Gegenoffensive der ukrainischen Armee begonnen. Darüber spekulieren zumindest US-Medien. Spätestens jetzt braucht Wladimir Putin dringend neue militärische Erfolge. Und die meldet das russische Verteidigungsministerium fast täglich. Der erste Abschuss eines Leopard-2-Panzers deutscher Herkunft scheint jetzt bestätigt. Deutsche Panzer, die auf russische Soldaten schießen, seit dem Zweiten Weltkrieg ist dies in Russland ein Trauma.

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Doch manchmal sind die Erfolgsmeldungen auch vorschnell. Bereits früher vermeldete man die Zerstörung von Leopard-Panzern. Das Beweisvideo analysierten russische Militärblogger. Sie kamen zum Schluss: Abgeschossen hätte man keinen deutschen Panzer, sondern einen Mähdrescher. Wagner-Chef Prigoschin kommentierte das Video hämisch. „Diese Panzer sind als landwirtschaftliche Erntemaschinen getarnt.“

Russlands Präsident steht unter Druck. Im kommenden März sind im Land Präsidentschaftswahlen. Putin wird sie gewinnen. Doch der über 70-Jährige sollte bald seinen Nachfolger bestimmen, meint der Politologe Abbas Galljamow. „Je schwächer der Präsident sein wird, wenn er den Namen seines Nachfolgers bekannt gibt, desto wahrscheinlicher ist es, dass sich einige Gruppen der Eliten weigern, diesem zu gehorchen.“ Und dies könnte die Atommacht Russland ins Chaos führen.

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