Braunschweig. Die frühere Abteilungsleiterin soll die Manipulations-Software mit weiterentwickelt haben. VW beschäftigte sie bis 2018 weiter.

Es ist der zweite Prozesstag: J., ehemalige Führungskraft bei Volkswagen, klagt vor dem Arbeitsgericht Braunschweig gegen ihre Kündigung. Drei Jahre nach dem Abgas-Skandal hatte VW sie sowie sechs weitere Manager im August 2018 vor die Tür gesetzt. Einen Monat zuvor hatte der Autobauer Einblick in die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft Braunschweig erhalten. Diese hätten neue Erkenntnisse gebracht, begründete VW die Kündigungen. Auch die anderen geschassten Manager erhoben laut VW Kündigungsschutzklage. Die der ehemaligen Abteilungsleiterin J. ist die erste, die nun verhandelt wird. Das Verfahren lässt tief blicken in den Abgrund des Abgas-Skandals. Es lässt auch tief blicken in den Abgrund eines Unternehmens, das unbedingt den Erfolg wollte und dafür offenbar systematischen Betrug in Kauf nahm.

Eine Einigung im Vorfeld der Verhandlung zwischen Volkswagen und der Klägerin kam nicht zustande. J. war offenbar nicht bereit, eine Art Verschwiegenheitserklärung zu unterschreiben. VW wollte offenbar keine horrenden Anwaltskosten der Klägerin übernehmen, deren Verfahren sich nun schon seit bald einem Jahr hinzieht. Außerdem steht nach Informationen unserer Zeitung die Vermutung im Raum, VW habe die Güteverhandlungen möglicherweise auf Anraten des US-Monitors Larry Thompson beendet. Der VW-Wächter könnte wollen, dass Verantwortliche des Betrugs endlich arbeitsrechtlich zur Verantwortung gezogen würden.

Mit dem Scheitern einer gütlichen Einigung ist es nun an der Kammer des Arbeitsgerichts, zu entscheiden. Dass das nicht ohne sei, machte der Vorsitzende Richter Ingo Hundtdeutlich. „Ich habe hier noch nie über 33 Milliarden entschieden.“ Auf diese Summe datiert ungefähr der Schaden in den USA für VW. Im Rahmen der Kündigungsschutzklage hat Volkswagen eine sogenannte Widerklage gestellt. Darin verlangt der Autobauer die Feststellung, dass die Klägerin wegen ihrer Verfehlungen Schadenersatz zahlen muss. Dieser würde wohlgemerkt aufgeteilt zwischen allen Schadenersatzpflichtigen. Die Kammer des Gerichts will ihre Entscheidung – mit einem Urteil ist zu rechnen, eine Beweisaufnahme gilt als unwahrscheinlich – am 25. Juli verkünden.

J., Mitte 50, sitzt schick und hell gekleidet im Gerichtssaal. Sie kam 1995 als promovierte Verfahrentechnikerin zu VW. Dort hat sie nach Angaben des Vorsitzenden Richters schnell Karriere gemacht. Schon ab 2000 war sie demnach im Management-Bereich beschäftigt, zwei Jahre später ging es eine Stufe weiter in den oberen Management-Bereich. Zwischen 2005 und 2016 leitete sie dann die Abteilung EAEF – Entwicklung Aggregate Antriebselektronik Funktionsentwicklung. Sie war zuständig für die Software in den Motoren.

Die Klägerin verfügte über ein Jahresbudget von 45 Millionen Euro und verantwortete mehrere Hundert Mitarbeiter. Ihr eigenes Einkommen stieg mit den Jahren. In den letzten drei Jahren ihrer Tätigkeit soll sie rund 300.000 Euro inklusive Boni pro Jahr verdient haben.

Die frühere Abteilungsleiterin ist auch eine der 39 Beschuldigten im Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Braunschweig. Diese hatte im April bereits gegen Winterkorn und vier weitere Top-Manager Anklage erhoben. Die Ermittlungen gegen die anderen Beschuldigten, auch gegen J., laufen noch. Rein hierarchisch gehört sie zu den kleineren „Kalibern“, über ihr stehen noch Hauptabteilungsleiter, Bereichsleiter, Marken- und schließlich Konzernvorstände.

Dennoch soll die Motoren-Expertin früh von der Manipulations-Software gewusst und sie mit weiterentwickelt haben. VW wirft ihr vor, den Betrug nicht gestoppt zu haben. Sie habe ihre Kenntnisse nicht beim Ombudsrat oder der Revision gemeldet. Unstreitig ist offenbar, dass sie Ende August, Anfang September 2015 kritische Daten gelöscht hat – sie sagt, auf Anweisung des VW-Syndikus. All das soll J. bei VW-internen Ermittlungen offengelegt haben.

Wie der Vorsitzende Richter darstellt, waren die Vorwürfe gegen J. schon im Dezember 2015 Thema einer Vorstandssitzung. „Damals hat man ihr nicht gekündigt, auf welcher Grundlage kündigte man ihr dann später?“, stellt der Richter die entscheidende Frage. VW sagt, die Ermittlungsakten hätten 2018 ein anderes „Gesamtbild“ ergeben, zusätzlich hätte es ein anderes Gewicht, ob Aussagen vor einer Staatsanwaltschaft oder intern geäußert würden.

Der Richter spricht jedoch Bedenken aus. So wurde J. 2017 zur Hauptabteilungsleiterin befördert. Habe das der Geschassten nicht Grund gegeben, darauf zu vertrauen, „dass da nichts mehr kommt“, ihr nicht gekündigt wird? VW sieht in der Versetzung keine Beförderung, sie sei im oberen Management geblieben. Entlassen oder freigestellt habe man sie 2015 zudem nicht aus prozesstaktische Gründen. Laut den Rechtsanwälten VWs von der Kanzlei Freshfields Bruckhaus Deringer ging der Autobauer davon aus, sie noch für die Kooperation mit den US-Behörden zu benötigen. Das stößt dem Richter auf: Vorgesetzte von J. seien doch freigestellt worden, nur sie nicht.

Der Anwalt J.s, Till Hoffmann-Remy der Frankfurter Kanzlei Kliemt, zielt in seinen Vorträgen auf die Stellung seiner Mandantin ab. Jeder, der VW kenne, wisse, wie hierarchisch der Konzern sei. „Wenn da von oben eine Order kommt, hinterfragt man die nicht, sondern führt sie aus“, sagte Hoffmann-Remy. Seine Mandatin sei innerhalb des Konzerns eine Art Dienstleisterin gewesen. Reines „Mitwirken“ reiche nicht aus, um eine Kündigung zu begründen. Die gesamte Abteilung habe das Gefühl gehabt, hier laufe was in eine falsche Richtung, aber man könne nichts dagegen machen. Alle, vor allem Vorgesetzte von J., hätten Bescheid gewusst.

Hätte sich J. möglicherweise an den Konzernvorstand wenden sollen? Gar an Winterkorn? Und was, wenn der doch auch Bescheid wusste? Wer wusste wann was? Die Frage musste sich auch Richter Hundt stellen. Er zitierte die berüchtigte Wochenend-Post, in der Winterkorn 2014 informiert worden sein soll über die Abschalt-Technik. „Das hat schon Sprengstoff“, so Hundt. Wie solle man dann denken, Winterkorn hätte keine Kenntnis haben können? Die Anwälte von Freshfields Bruckhaus Deringer verwiesen die Klägerin auf Revision, Compliance-Bereich und Ombudsräte, an die sie sich hätte wenden müssen.

In einer Situation lacht die Klägerin. Hundt sagt ihr: „Da gibt es nichts zu lachen. Da schießen mir die Tränen in die Augen, und das als gebürtigem Wolfsburger.“ An anderer Stelle fragt er, wie man noch hätte schlafen können, mit dem Wissen, dass in jedes Diesel-Auto die Software eingebaut würde. „Man trägt ja auch eine gewisse Verantwortung. Und die wird ja auch honoriert.“

Seit einem Jahr hat J. nun kein Einkommen mehr. Ihr Anwalt Hoffmann-Remy geht davon aus, dass die Widerklage auf Schadenersatz abgewiesen wird und dass auch die Kündigung vor dem Arbeitsgericht keinen Bestand haben wird. VW teilte mit, man sei weiterhin der Ansicht, dass der Klägerin zu recht gekündigt wurde. „Das Urteil bleibt abzuwarten“, so ein VW-Sprecher.