Göttingen. Bei Privatfeiern sollen Großfamilien gegen die Corona-Regeln verstoßen haben. Das Resultat: jede Menge Neuinfektionen – und Ärger in der Stadt.

Das Landgericht und das Finanzamt sind nur einen Steinwurf entfernt. Auf der anderen Straßenseite befindet sich der Zentralcampus der altehrwürdigen Georg-August-Universität, in einem Nebentrakt residiert die renommierte Private Hochschule.

Dass das Göttinger Iduna-Zentrum seit Tagen als nationaler Corona-Hotspot für Schlagzeilen sorgt, liegt denn auch nicht an der respektablen Nachbarschaft, sondern an den Wohntürmen des Gebäudekomplexes – oder präziser ausgedrückt: An einem Teil der Bewohner.

Donnerstagabend sind 120 Corona-Infektionen bekannt

Weil sich zahlreiche Mitglieder dort lebender Großfamilien bei privaten Feiern aus Anlass des muslimischen Zuckerfestes am 23. Mai nicht an die Hygiene- und Abstandsregeln gehalten haben sollen, gab es bis zum Donnerstagabend mindestens 120 neue Covid-19-Infektionen. Hunderte Menschen kamen in Göttingen sowie anderen Kommunen in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen als Kontaktpersonen in Quarantäne – darunter auch aus Salzgitter.

Die Stadt Göttingen will am Freitag mit Massentests starten: Alle Bewohner des hauptbetroffenen Hochhauskomplexes sollen auf Infektionen mit dem Coronavirus untersucht werden, wie Sozialdezernentin Petra Broistedt am Donnerstagabend bei einer Pressekonferenz mitteilte.

Die Corona-Tests in dem Hochhauskomplex sollen bis Sonntag abgeschlossen sein. In der Anlage am Rand der Innenstadt sind rund 600 Menschen gemeldet. Die Verwaltung geht aber davon aus, dass dort sehr viel mehr Personen leben. Die Stadt will zur Not mit Hilfe der Polizei durchsetzen, dass alle Bewohner zu den Test erscheinen.

Am Freitag sollen zudem knapp 250 Bewohner und Mitarbeiter eines Göttinger Altenheims auf das Coronavirus getestet werden. Dort war am Mittwoch bei einem Mitarbeiter eine Infektion mit dem Virus festgestellt worden.

Schulen sind erneut geschlossen – Teamsport verboten

Wie es zu der Infektionswelle kommen konnte, verriet ein Schüler seiner Schulleitung: In seiner Familie hätten sich alle die Hand gegeben und sich umarmt. Zum Unterricht kann er ebenso wie alle anderen Schüler in Göttingen vorerst nicht mehr: Weil auch zwei Dutzend anderer Kinder infiziert sind, hat die Stadt die gerade erst wieder geöffneten Schulen allesamt erneut geschlossen. Auch im Landkreis Göttingen sind viele Schulen dicht.

Am Mittwochabend verfügte die Stadt zudem, dass die Göttinger Vereine für vorerst zwei Wochen keinen Team- und Kontaktsport mehr anbieten dürfen: Viele der Infizierten sind Mannschaftssportler. Außerdem wird ein Schwimmbad geschlossen.

Ob es für Göttingen noch schlimmer kommt und ob die Rücknahme weiterer Lockerungen angeordnet werden müsse, sei nicht auszuschließen, sagte Oberbürgermeister Rolf-Georg Köhler (SPD).

Das damit einhergehende Interesse der Medien scheint nicht allen Bewohnern des vernachlässigt wirkenden Wohnkomplexes zu gefallen. Am Mittwoch wurde das Team eines privaten Fernseh-Senders nach eigener Aussage attackiert. „Die Leute haben gedroht, unsere Ausrüstung zu demolieren“, berichtete Kameramann Festim Beqiri. „Außerdem wurden wir von Balkonen herab mit rohen Kartoffeln beworfen.“ Auch Tomaten seien geflogen, berichtete sein Kollege Daniel Koop.

Gegen Mittag fliegt zwar nichts mehr von den Balkonen der bis zu 18 Geschosse hohen Wohntürme. Vereinzelt blicken Bewohner auf die Straße hinab, wo inzwischen drei Streifenwagen der Polizei in Stellung gegangen sind. Hin und wieder verlässt oder betritt jemand das Gebäude, zumeist mit einem großen Hund an der Leine. Eine junge Frau, die ein aggressiv wirkendes Tier hinter sich her zerrt, will nicht sprechen. Die meisten anderen Bewohner auch nicht. Eine ältere Dame hebt zunächst zwar an, will dann aber auch nicht mehr reden. „Mein Sohn hat gesagt, ich soll lieber den Mund halten“, raunt sie und geht weiter. Warum sie schweigt, lässt sie offen.

Iduna-Zentrum als Schwerpunkt der Infektionen

Andreas Buick hat eine Idee: Das Iduna-Zentrum sei schon seit Jahren ein Schwerpunkt in der Arbeit der örtlichen Strafverfolgungsbehörden, sagt der Sprecher der Staatsanwaltschaft Göttingen. In jedem Fall sei der Gebäudekomplex der Schwerpunkt der aktuellen Covid-19-Infektionen, berichtete Göttingens Oberbürgermeister Rolf-Georg Köhler (SPD). Dort – nicht in den Moscheen – sei beim Zuckerfest im Beisein auswärtiger Gäste gegen die Corona-Regeln verstoßen worden.

Wenig Verständnis – aber strafrechtliche Konsequenzen?

„Es ist erschreckend, dass es Menschen gibt, die meinen, für sie gelten die Regeln nicht oder für sie wären die Regeln unter bestimmten Umständen außer Kraft gesetzt“, sagt dazu der Leiter der Neuen IGS Göttingen, Lars Humrich. „Gerade als Religionslehrer stelle ich fest, dass wir vor allem im religiösen Bereich solche Verstöße beobachten, ob in einer Baptistengemeinde, in einer Pfingstgemeinde oder jetzt beim muslimischen Zuckerfest.“

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Wenig Verständnis zeigte auch der Vorsitzende des Göttinger Stadtelternrats, Janek Freyjer. „Die Eltern sind erschüttert, dass eine Minderheit so unverantwortlich gehandelt hat, so dass jetzt die Schulen wieder geschlossen werden mussten.“

Nach Angaben der Stadt stammt die Mehrzahl der Beteiligten aus dem früheren Jugoslawien – zu den genauen Nationalitäten gab es zunächst keine Angaben. Die Polizei wollte sich zu den Familien nicht konkret äußern – bei ihnen sei das Zuckerfest zum Ende des Ramadan traditionell ein großes Fest, sagte Kripo-Chef Thomas Breyer lediglich.

Ob die massenhaften Corona-Verstöße strafrechtliche Konsequenzen haben, ist noch offen. Die Stadt sei vorerst damit beschäftigt, die Infektionsketten nachzuvollziehen, sagte Staatsanwaltschaft-Sprecher Buick. „Wenn sie etwas mehr Luft haben, werden sie entscheiden, gegen wen Ordnungswidrigkeiten-Verfahren eingeleitet und gegen wen Strafanzeigen erstattet werden sollen.“

Ein erheblicher Teil der Personen habe sich nach den Verstößen gegen die Corona-Regeln den behördlich angeordneten Tests zu entziehen versucht, sagte der SPD-Fraktionsvorsitzende im Göttinger Stadtrat, Tom Wedrins. Der fordert eine scharfe Ahndung der Delikte. /dpa

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