Das Regime darf nicht durchkommen mit der Behauptung, dass gegen den Krieg und gegen Putin zu sein, zugleich bedeutet, „gegen Russland“ zu sein.

Er hat den Staat menschlicher gemacht. Nun ist er uns genommen. Wir trauern, sind aber auch dankbar.
Gerhard Glogowski,
Trauerrede auf Karl-Wilhelm Lange

Echter Demokrat. Exzellenter Jurist. Wackerer Protestant. Fleißiger Denkmalschützer. Nobler Menschenfreund. Solche Aufzählungen gehen in Nachrufen leicht von der Hand – wie ja überhaupt die Gattung mit dem Vorurteil umzugehen hat, dass den Dahingegangenen positive Zuschreibungen am liebsten mit der großen Schippe verabreicht werden...

Also: Karl-Wilhelm Lange ist gestorben. Mit 88 Jahren. Im April schon, wir haben das erst gar nicht mitbekommen. Ist ja auch alles, pardon: lange her. Von 1993 bis 1997 war der SPD-Mann Regierungspräsident der Bezirksregierung Braunschweig. Dass es diese „Mittelbehörde“ – zwischen Landesregierung und Kommunalverwaltung – in Niedersachsen längst nicht mehr gibt, soll hier nur kurz erwähnt werden, ergänzt allerdings um den Hinweis, dass sachkundige Leute nicht müde werden, ihre Abschaffung als Fehler zu geißeln.

Karl-Wilhelm Lange wurde 1933 geboren, in Guben an der Neiße. Von 1966 bis 1992 – eine kleine Ewigkeit – war er Stadtdirektor in Hann. Münden. Als „Kommunalo“ kam er nach Braunschweig. In der Rede, die Parteifreund Glogowski, von Lange beizeiten gebeten, am Grab hielt, hob er Langes Verdienste im Regierungsbezirk Braunschweig hervor – von der Wahrung regionaler Eigenständigkeiten und der Verbindung von Stiftungen bis zu Reformen der Verwaltung. Auch wenn er nicht vom Volk gewählt wurde, nicht das große Rad zu drehen hatte: „Regierungspräsident“ klingt wichtig und meint ja auch einen hohen politischen Beamten. Wie fern Lange eine „herzogliche“ Amtsführung lag, betonen alle, die ihn erlebt haben. Einer erzählt, wie ein unzufriedener Landwirt die Behörde mit Protestbriefen torpedierte – bis der Regierungspräsident beschloss, einfach mal vorbeizuschauen und am bäuerlichen Küchentisch den Zoff zu beenden.

Auch auf nationaler Ebene hat sich Lange hervorgetan: als Denkmalschützer und im Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, dessen Präsident er bis 2002 war. Gräberpflege, Versöhnung mit den von der Wehrmacht malträtierten Völkern, das verdient Anerkennung. Dass an seinem Beispiel jedoch auch eine Art „Dilemma der Aussöhnung“ ersichtlich wird, gehört zu den schmerzhaften Einsichten unserer Zeit. Ich beziehe mich auf den im Internet zugänglichen Brief, den der Ruheständler 75 Jahre nach der Kapitulation der 6. Armee in Stalingrad, also 2018, an eine Museumsdirektorin in Russland schrieb. Über „Brücken der Versöhnung“, auf denen man sich gelobt habe, „dass nichts und niemand uns jemals wieder von diesem Weg der Versöhnung, des Friedens und der Zusammenarbeit würde abbringen können“, schrieb er. Auch auf Putins Rede 2001 vor dem Bundestag ging Lange ein. „Für uns schien sich damals ein Traum zu erfüllen.“ Und er fuhr fort, 2018 wohlgemerkt: „Doch heute stehen wir vor den Trümmern dieses allzu kurzen Traums, mitten in einem neuen kalten Krieg, der allein den Interessen der USA/Nato dient und die Kräfte der Versöhnung, des Friedens und der Zusammenarbeit zwischen Russland und Deutschland durch Hochrüstung, durch Manöver an der Grenze zu Russland sowie durch wirtschaftliche Sanktionen zu zerstören versucht.“

„Staatsbürgerliche Verkrüppelung“

Aua! Sauer stößt einem Betrachter des Krieges in der Ukraine heute Langes Herleitung auf. Verwundert registriert man Unschärfen, Unterstellungen. Und merkt, wie kompliziert die deutsch-russischen Dinge wirklich liegen. Nicht nur Bequemlichkeit, auch nicht nur die Schrödersche Drei-R-Formel (Ruchlosigkeit, Raffgier, Rechthaberei), sondern auch die aus historisch berechtigtem Schuldbewusstsein gewachsene Sehnsucht nach Aussöhnung scheint Deutschen den Blick darauf verstellt zu haben, was in Russland wirklich vor sich ging.

Entsprechend groß ist nun unser Nachhilfe-Bedarf. Lernen wir also, etwa von Alissa Ganijewa! Die Schriftstellerin legte in der FAZ dar, wie 20 Jahre Putinismus „die staatsbürgerliche Verkrüppelung aller Schichten einer Gesellschaft“ und die zielgerichtete Entpolitisierung des Volkes bewirkt hätten. Putinismus meine ein Primat der Stärke: Was stark ist, muss gut sein. „Putin ist nicht der Herrscher Russlands, weil er so beliebt ist, sondern genau umgekehrt, er ist so beliebt, weil er der Herrscher ist“, schreibt Ganijewa. Das Ergebnis: Jeder Oppositionelle gelte automatisch als Verlierer, sei kläglich, sogar lächerlich. Die Angst, aufzufallen, sei den Menschen zur zweiten Natur geworden. Der Ausblick der Autorin ist pessimistisch: Der größenwahnsinnige wie auch komplexzerfressene Putinismus könne auch ohne Putin prima weiterleben. Ein Regierungswechsel, dem keine Erkenntnis der nationalen Verantwortung auf dem Fuß folge, bedeutete unter Umständen nur eine Atempause. „Und dann wird alles wieder von vorne losgehen.“

Furchtbar (und leider auch furchtbar einleuchtend) ist diese Analyse. Hinaus läuft sie auf den Appell, uns vor selbstbezogenem Gesundbeten künftig besser zu hüten. Mit der Dämonisierung alles Russischen hat dies nichts zu tun. Im Gegenteil: Das Regime darf nicht durchkommen mit der Behauptung, dass gegen den Krieg und gegen Putin zu sein, zugleich bedeutet, „gegen Russland“ zu sein. Außerdem hat Russland keinerlei Recht, als Alleinerbe der Sowjetunion aufzutreten und historisierende Debatten vom Zaun zu brechen, in denen die Opfer, die Georgiern, Ukrainern, Weißrussen und anderen im Weltkrieg abverlangt wurden, unter den Kreml-Teppich gekehrt werden. Die klare Kante gegen die imperialistischen russischen Exzesse ist ebenso notwendig wie die Unterstützung derjenigen, die sich widersetzen. Gerade wir als Experten für nationale Schande und Kollektivschuld-Debatten sollten dies ohne Hysterie beherzigen. Nur so wird die Aussöhnung, die Karl-Wilhelm Lange so sehr am Herzen lag, die diesem Wort aber auch gerecht wird, wieder möglich werden. Irgendwann. Von uns aus: möglichst bald.