„Wer Lebenswillen fordert, unterstellt zugleich, dass der nicht vorhanden ist. Diese Unterstellung ist zynisch und frech.“

Wenn es um die Steuerung seiner Außenwirkung geht, dann ist der Volkswagen-Konzern geradezu pingelig-pedantisch. Kein noch so kleines Kratzerchen soll den Glanz des Wolfsburger Autobauers trüben. Das gilt für die Autos sowieso, aber ganz besonders auch für die Kommunikation. Da zählt jede Silbe, jede Formulierung, jeder Halbsatz wird wohl abgewägt. Nicht nur mit Blick auf die Kunden, sondern auch auf eine mögliche Börsenrelevanz samt Auswirkungen auf den Aktienkurs.

Dass es intern durchaus ruppiger zugeht, liegt in einem wettbewerbs- und erfolgsorientierten Unternehmen auf der Hand. Belege dafür sind auch im aktuellen Strafprozess zur Aufklärung des VW-Abgas-Betrugs vor dem Landgericht Braunschweig zu hören. Dort wird von heftigen Auseinandersetzungen berichtet, bis hin zum gegenseitigen Anschreien.

Nun sagt ein altes Sprichwort: Nur wer die Regeln beherrscht, darf sie brechen. Einer, der dieses Sprichwort immer wieder beherzigt und als leidenschaftlicher Grenzgänger auftritt, ist Konzernchef Herbert Diess. In der Vergangenheit ist er nach innen, aber gerade auch nach außen durch harte und direkte Äußerungen aufgefallen, die so gar nicht zum sonst zu mühsam aufgebauten und sorgsam gepflegten VW-Image passen. Das ist mitunter sogar wohltuend und richtig, wenn ein mächtiger Manager Klartext spricht, aufrüttelt, aneckt, unbequem ist.

Zu Diess’ rhetorischem Repertoire gehören Spitzen gegen den Betriebsrat, Forderungen etwa zur Klima- und Wirtschaftspolitik, unglückliche Appelle wie „Ebit macht frei“ und immer wieder heftige Kritik am Stammsitz Wolfsburg. Der ist ja zugleich eine Festung der Mitbestimmung, ein Turm in der Brandung bröckelnder Tarifbindung im Lande. In Wolfsburg vermisse er Lebensfreude und den Hunger auf Erfolg, sagte Diess wiederholt. Was er damit auch klar macht: Wolfsburg ist für ihn nicht wie in Zeiten früherer Vorstandschefs unantastbar, sondern ein Standort unter vielen – der sich immer wieder beweisen muss.

Nach einer Art verlängerter Sommerpause war es vor gut einer Woche wieder so weit. In einem Doppelauftritt mit Markenchef Ralf Brandstätter polterte Diess auf einer Top-Manager-Konferenz in Wolfsburg los. Produktivität und Profitabilität am Stammsitz seien künftig nicht mehr wettbewerbsfähig, gefragt seien daher ein „Ruck“ und „Lebenswille“.

Nun ließe sich das Vorstands-Gepoltere als übliche Wachrüttel-Folklore abtun – zumal Forderungen vor Top-Managern bewusst deutlich und nachdringlich formuliert werden. Und so falsch ist das Signal grundsätzlich nicht.

Gegen das Vom-Tisch-Wischen sprechen dennoch zwei Argumente: Erstens die Wahl des Wortes Lebenswille, zweitens wurden Auszüge der Rede ins VW-Intranet gestellt und waren daher für alle Beschäftigten einsehbar.

Wer Lebenswillen fordert, unterstellt zugleich, dass der nicht vorhanden ist. Wer keinen Lebenswillen hat, der hat kapituliert, aufgegeben, ist dem Untergang geweiht. Diese Unterstellung ist in diesem Fall und zu diesem Zeitpunkt zynisch und frech.

Wie auch andere Unternehmen war und ist der Standort Wolfsburg stark von Corona beeinträchtigt. Davon zeugen Kurzarbeit und bis heute das Arbeiten an vielen Stellen im Homeoffice. Hinzu kommt seit Ende vergangenen Jahres der Halbleiter-Mangel, der die Produktion sehr schmerzhaft lähmt und ebenfalls Kurzarbeit bringt. Dennoch war das Finanzergebnis der Marke VW im ersten Halbjahr sehr ordentlich. Die ersten beiden Entwicklungen hat die Belegschaft nicht zu verantworten, die dritte schon.

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Die Unterstellung des mangelnden Lebenswillens trifft die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Wolfsburg nicht nur aus den oben genannten Gründen zur Unzeit. Das gilt insbesondere für die Beschäftigten in der Produktion. Während die Fahrzeugwerke bereits für Elektro-Modelle gerüstet sind oder auf diese Ära vorbereitet werden, während Komponentenwerke wie Braunschweig und Salzgitter konsequent auf die neue Technik ausgerichtet wurden und werden, ist das Werk Wolfsburg überspitzt formuliert eine Art Museum. Dort werden nach wie vor ausschließlich Verbrenner produziert. Die müssen zwar noch das Geld für den Umbau verdienen, sind technisch und strategisch betrachtet aber Auslaufmodelle. Wenn der Betriebsrat angesichts der vielen Kurzarbeit und angesichts dieser Produktausrichtung von Unruhe und Besorgnis in der Belegschaft spricht, ist das bestens nachvollziehbar und muss ernst genommen werden.

Und die nächste Herausforderung ist bereits erkennbar. Mit der Eröffnung der Tesla-Fabrik in der Nachbarschaft wird sich der Druck auf das Werk Wolfsburg erhöhen. Zwar will VW ab 2026 mit einem neuen elektrifizierten Top-Modell technisch zu Tesla aufschließen. Dieser Wettbewerb ist aber noch längst nicht gewonnen, das gilt auch für die Aspekte Profitabilität und Produktivität.

Gut möglich also, dass in Wolfsburg irgendwann darüber diskutiert wird, das Werk nur noch für anspruchsvolle Produktionsanläufe zu nutzen. Anders gesagt: Der Trend des Wandels vom Produktionsstandort zur Konzern-Denkfabrik könnte sich noch beschleunigen. Schon jetzt hat sich dieser Wandel – gemessen an der Verteilung der Beschäftigten – längst vollzogen. Wolfsburg ist nicht mehr das klassische Malocher-Revier.

Absehbar ist angesichts dieser Herausforderungen, dass sich der Vorstand nicht das letzte Mal mit Botschaften und Appellen ans Management und die Belegschaft wendet. Dabei wird es mehr denn je auf die Wahl der Worte ankommen. Schon heute wirken Formulierungen wie der geforderte „Ruck“ arg strapaziert. Die Unterstellung eines fehlenden „Lebenswillens“ könnte dann auch nicht mehr unter Wachrüttel-Folklore laufen, sondern nach hinten losgehen – weil sie verletzend ist. Besser wären inhaltlich starke Argumente und Botschaften, die den Team- und Aufbruchgeist beflügeln und anspornen. Denn darauf kommt es doch an.