„Ja, man darf auch schlecht gelaunt wählen gehen. Hauptsache: Man tut es überhaupt.“
Manch einer tänzelt fröhlich pfeifend ins Wahllokal seines Vertrauens. Aber man kann auch schlecht gelaunt wählen gehen. Ich möchte dafür zwei literarische Beispiele anführen. Nichts Aktuelles, das gebe ich zu. Aber Weltliteratur. Erste Liga. Beispiel Nummer eins: Als der Held zum Wahllokal kam, wollte er „die Sache gern hinter sich haben“. Er trat ein, „um da so rasch wie möglich seinen Zettel in die Urne zu tun“. Doch nun traf ihn der Blick eines alten Bekannten, ein Blick, der in seiner Wahrnehmung Folgendes auszudrücken schien: „Ja, das hilft nu mal nicht; man muss die Komödie mit durchmachen.“
Komödie? Durchmachen? Arg übellaunig geht der Held im zweiten Beispiel in Richtung Wahllokal. „Finster blickend und bleichgesichtig schritt er misstrauisch zum Rathaus und hielt unterwegs immer wieder schützend die Hand vor die Augen, um sich vor dem widrigen Wind zu schützen, der sämtlichen unterwegs aufgelesenen Dreck vor sich her blies…“
Wer, bei allen widrigen Winden, sind diese beiden Herren, könnte man fragen. Antwort: Das wird bald verraten. Kleiner Hinweis: Der erste wählte im Städtchen Rheinsberg, der andere in einem Kaff namens Donnafugata.
Ja, man darf auch schlecht gelaunt wählen gehen. Hauptsache: Man tut es überhaupt. Nicht so ganz überraschend wird diese Ansicht hier vertreten. Mit dringenden Wahl-Appellen (unter Einbeziehung der abgenudelten Formulierung „Festtag der Demokratie“) halte ich mich an dieser Stelle jedoch zurück. Unter den Leserinnen und Lesern dieses Textes dürfte die zu bepredigende Gruppe derer, die über Wahlrecht, repräsentative Demokratie und Wahlbeteiligung nie so recht nachgedacht haben, ohnehin marginal sein…
Übrigens wage ich eine Prognose. Sie ist das, was man an der Rennbahn einen „todsicheren Tipp“ nennt. Ich sage einen Beteiligungsrekord voraus – in Sachen Briefwahl. Klar, in dem Ausmaß gab es das nie. Das wirkt sich auf den Wahlkampf aus. Kann ein Endspurt überhaupt noch entscheidend forciert werden? Auch beklagen Verfassungsrechtler, dass die Ausnahme zur Regel gemacht wird. Das ist coronabedingt bestens begründbar, passt an sich aber nicht zu den Grundsätzen einer freien, geheimen und öffentlichen Wahl. Wer garantiert, dass der Briefwahlzettel zu Hause wirklich ohne ungebührlichen Druck ausgefüllt wird? Keiner.
Die geringe Wahlbeteiligung, von vergrätzten Ex-Demokraten oft triumphierend betont, ist für redliche Demokraten vielfach Anlass zur Bekümmerung. Bei Kommunalwahlen in Niedersachsen lag sie vor vierzig Jahren noch im 70er- und vor dreißig Jahren im 60er-Bereich, bevor sie 2006 unter 52 Prozent sackte – gefolgt nun aber von zwei Wahlgängen mit leichter Aufwärtstendenz. Der Göttinger Demokratieforscher Simon Franzmann riskiert den Tipp, dass sich der positive Trend am Sonntag fortsetzt – wegen Corona. Die Pandemie hat laut Franzmann das Vertrauen in die Kommunen wachsen lassen – wohingegen man Fehler und Probleme eher den Bundespolitikern anlaste. Mal schauen...
Doch nun zu den beiden unwilligen Wählern, die ich eingangs erwähnte. Zwei Aristokraten sind’s: Dubslav von Stechlin aus Theodor Fontanes Roman „Der Stechlin“ und Don Fabrizio, Fürst von Salina, Hauptfigur in Giuseppe Tomasi di Lampedusas Roman „Der Leopard“. Beide Bücher sind nostalgisch, nachdenklich, reichhaltig. Fontane beschrieb seine preußische Gegenwart der 1890er Jahre, wohingegen der Sizilianer in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts vom Ende eines Fürsten und der Einigung Italiens 1861 erzählte.
Nein, als glühende Demokraten kommen weder der preußische Dubslav noch der hünenhafte Don Fabrizio infrage – und übrigens auch nicht Fabrizios cleverer, sich so eilig mit dem Neuen arrangierender Neffe Tancredi, der ja den legendären Satz sagt: „Wenn wir wollen, dass alles bleibt, wie es ist, muss sich alles ändern.“
Doch das wirklich Bestechende an den beiden Alten ist, dass sie die fundamentalen Schwächen der überlieferten Ordnung klar erkennen, ohne sich naive Vorstellungen von der neuen Zeit und ihrer erloschenen Rolle darin zu machen. Sie erleben den Fortschritt als Verlust – und schaffen es, im Verlust auch den Fortschritt zu erkennen.
Die Wahlen sind in diesen Büchern keine Festtage. Die Abstimmung über den Italien-Anschluss ist im Lampedusa-Roman sogar eine Farce. Nur Ja-Stimmen gibt es am Abend in Donnafugata. Was Wunder, dass einer, der mit Nein gestimmt hat, die Fassung verliert: „Diese Schweine im Rathaus schlucken meine Meinung, kauen sie und scheißen sie dann, wie’s ihnen behagt.“ So grob würde sich Don Fabrizio nie äußern. Aber ihm schwant, dass Wahlmanipulation (und bezöge sie sich nur auf die Stimme eines „Querulanten“) gravierend ist: Gleich an der Wiege des neuen Staates wird ein Neugeborenes erstickt: das Vertrauen.
Im Rheinsberger Wahlbezirk des „Stechlin“-Romans ist auch nicht alles Gold. Es besteht Gelegenheit, sich mit dem Irrsinn des Dreiklassenwahlrechts zu befassen, demnach die Stimmen der Männer (!) ab 24 (!) je nach Steuerleistung unterteilt wurden. Klar, dass die Stimmen der dritten Klasse viel weniger wert waren. Um so bemerkenswerter, dass bei Fontane der sozialdemokratische Kandidat den konservativen Dubslav besiegt, was dieser insgeheim als Erleichterung empfindet. „Siegen ist gut, aber zu Tische gehen ist noch besser.“ In diesem Sinne wird in beiden Romanen übrigens gleich nach der Wahl zum Likör gegriffen...
So verschieden unsere Wahlen – zum Glück! – von den Abstimmungen vor 150 Jahren sind: Vielleicht lässt sich hier anknüpfen. Wahlen sind Fortschritt. Wahlen sind wichtig. Wahlen müssen sauber sein. Aber Wahlen sind auch anstrengend. Die fleißigen Wahlhelfer und tapferen Kandidaten haben sich am Sonntagabend einen Schluck verdient. Einen besseren sogar als den, der Don Fabrizio nach der Wahl vom Bürgermeister vorgesetzt wird. „Die drei Sorten Likör waren im übrigen gleichermaßen zuckrig, klebrig und widerlich.“
Prost, Wahltag!
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Beide Romane sind als Hörbücher sehr reizvoll. 2003 hat Gert Westphal den „Stechlin“ aufgenommen. „Der Leopard“ ist in der Neuübersetzung von Burkhart Kroeber empfehlenswert, gelesen von Thomas Loibl