„Gerade die Kultur ist geeignet, unsere sinnlichen und emotionalen Verlusterfahrungen im medialen Zeitalter zu kompensieren.“

Wie oft mag die Operndirektorin des Braunschweiger Staatstheaters in ihrem Leben mit Orchestern in Kontakt gewesen sein? Wahrscheinlich beinahe täglich. Und doch beschrieb Isabel Ostermann bei der Vorstellung des neuen Spielplans in der vergangenen Woche ihr Erlebnis, das Staatsorchester wieder zu hören, als eine „körperliche Erschütterung“. Und ergänzte, offenbar selbst darüber staunend: „Es war, als hörte man es zum ersten Mal.“

Dass Kunst und Kultur jetzt wieder zurückkehren in unser Leben, empfinden wir wohl alle als beglückend. Sich endlich wieder vom satten Klang der Streicher und Bläser oder den Delirien einer gut geölten Rockband umwerfen lassen, im selben Raum zu sein mit Menschen, die mit ihren Körpern und Stimmen im gemeinschaftlich erlebten Augenblick eine andere Welt erschaffen! Aber auch die raue Kruste eines Ölgemäldes, die schrundige Oberfläche eines behauenen Steins mit den Augen zu begreifen! Auch das Hinübergleiten in die Realität eines Films auf der großen Leinwand eines Kinos gehört dazu. All das ist rein digital kaum zu simulieren. Es fehlt genau jenes Moment der Erschütterung, von dem Isabel Ostermann sprach. Der Moment der Überwältigung, des einmalig Ereignishaften, des Eintauchens und Einswerdens mit Imaginationen. Es fehlt, was der Philosoph Walter Benjamin bereits 1935 in einem berühmten Aufsatz die „Aura“ nannte. Sie drohe, so schrieb Benjamin, im Zuge der „technischen Reproduzierbarkeit“ von Kunstwerken verloren zu gehen. Der Aufsatz, scheint mir, ist heute aktueller denn je.

Es wurde ja viel lamentiert in Corona-Zeiten. Ein Lamento ging dahin, in der Pandemie habe sich erwiesen, wie rückständig Deutschland sich in Sachen Digitalität erwiesen habe, wie schmerzlich es in vielen Bereichen an Kompetenz und technischer Ausstattung fehle, dass Corona aber immerhin auch einiges bewegt und beschleunigt habe. Das ist gewiss alles richtig und wichtig. Aber es besorgt mich weniger. Der digitale Fortschritt kommt sowieso, ob schneller oder langsamer – nun ja.

Mich interessiert viel mehr die Dialektik dieses Lamentos. Denn in dem Maße, in dem wir nach dem Digitalen gieren, nimmt auch die Sehnsucht nach dem Analogen zu. Das hat die Pandemie erwiesen. Das gilt für Freizeitgestaltung, für Sport, vor allem aber und besonders inbrünstig für die Kultur. Seit seinen Anfängen im antiken Griechenland wohnt dem Theater etwas Rituelles inne, und im Begriff der Katharsis, also der Läuterung oder inneren Reinigung des Zuschauers durch die dargestellten Charaktere und ihre Verstrickungen, wird ihm bis heute eine Art Magie zugeschrieben. Diese Magie entsteht zwischen Spielern und Zuschauern. Also – das ist gängige Meinung in der Theaterwissenschaft – ist Theater ohne Zuschauer gar kein Theater. Auch die Orte der Bildenden Kunst sind Oasen des Wegtretens aus der Alltagswelt. Das geht aber nur, wenn man sie zuvor körperlich betreten kann.

Das Staatstheater – und etwa auch das Figurentheater Fadenschein – haben im Lockdown ambitionierte Streaming-Angebote gemacht. Museen und Kunstvereine glänzten mit virtuellen Präsentationen und Führungen. Aller Ehren wert. Auch dass das Digitale eine große Hilfe bei der Kunstvermittlung sein kann, steht außer Frage. Aber was die Kunst selbst und ihre Wirkung angeht, ist es nur der Schatten eines Surrogats. Das Analoge ist hier unersetzlich, deshalb ist es besonders kostbar und besonders begehrt – weil es gerade in der Kultur geeignet ist, unsere sinnlichen und emotionalen Verlusterfahrungen im medialen Zeitalter zu kompensieren.

Bis eines Tages die Maschinen selbst in der Lage sind, Musik zu komponieren, wie Orchesterdirektor Martin Weller bei der Spielplan-Vorstellung sagte. Dies sei dank raffinierter Algorithmen in der amerikanischen Filmmusik bereits gang und gäbe. Weller: „Darauf müssen wir uns einstellen, darauf müssen wir eine Antwort finden.“ Hinzuzufügen wäre, dass die Zeit kommen wird, in der ein digital erzeugter Ton von einem mechanisch erzeugten nicht mehr zu unterscheiden sein wird.

Spannend. Aber erstmal im wahrsten Sinne des Wortes noch Zukunftsmusik. Immerhin verdeutlicht dieser Blick voraus: Das Analoge ist im Vergleich zum Digitalen teuer. Die Frage wird sein: Wie teuer ist uns die Kultur, die ja, wie wir gesehen haben, gar nicht anders kann? Auch da ist während der Pandemie viel lamentiert worden, meistenteils sicher zurecht. Am Ende aber scheint sie ihren Wert glänzend bestätigt zu haben, eben weil sich so viele Menschen – zumindest unmittelbar nach ihrer Rückkunft – so offensichtlich nach ihr verzehren. Eine Parole, gern genutzt unter anderem auch von Kulturstaatsministerin Monika Grütters, lautete: „Kultur ist kein Luxus“. Eine Behauptung zur Bekräftigung der Notwendigkeit, ihr über die Krise zu helfen. Denn: Luxus meint ja das Überschüssige, Überflüssige, Übermäßige. Auf die Kultur gemünzt, hieße das: kann zur Not weg. Schon klar. Gut.

Aber grundsätzlich gefällt mir das nicht recht. Klingt wie eine streng puritanische Rechtfertigung. Abgesehen davon, dass viel Analoges im Medienzeitalter ohnehin zum Luxus werden wird, ist doch gerade dies das Kostbare an der Kultur, das Widerständige in unserer von Effektivitätsdenken und technischer Rationalität durchdrungenen Welt. Der Philosoph Theodor W. Adorno sah in der Kultur einen Luxus, insofern sie den Menschen von der „Sklaverei der Zwecke“ befreie. Luxus hat schon immer Lust gemacht, die Sinne verfeinert und die Pfeffersäcke geärgert. Im Wesen der Kunst liegt das Ungezügelte, das Genießerische, auch das spielerisch Unsinnige, das Ekstatische, das Über-die-Stränge-Schlagen. Bei der Spielplan-Vorstellung sagte Generalintendantin Dagmar Schlingmann: „Die Leute brauchen uns.“ Ich hätte gesagt: „Sie wollen uns.“ Kultur hat mehr mit Wollust zu tun als mit Gebrauchsgegenstand. Sie ist auch deshalb ein wunderbarer Luxus, weil sie sich dank der breiten Förderung in unserem Land praktisch jeder leisten kann. Das ist sensationell. Deshalb sollten wir diesen Luxus unbedingt erhalten.