Braunschweig. Was tun als Bürgermeister einer Kommune, die bei der Inzidenz schwankt wie ein betrunkener Seemann bei Windstärke 12?

In der Not frisst der Teufel Fliegen – oder er zieht die Notbremse. So geschehen am vergangenen Samstag, als das zuvor vom Bundestag und Bundesrat verabschiedete überarbeitete Infektionsschutzgesetz in Kraft trat. Seitdem soll, so der Wunsch der Bundesregierung, von Garmisch bis Flensburg und von Aachen bis Cottbus nach denselben Spielregeln gespielt werden. Nicht, dass wir uns falsch verstehen. An dieser Stelle soll der Teufel nicht mit Kanzlerin Angela Merkel gleichgesetzt werden – auch wenn das mutmaßlich viel Applaus bekommen würde. Beifall von der falschen Seite. Von Leuten, die an die große Verschwörung glauben oder die sagen, eine Grippe und Corona unterscheiden sich nicht wesentlich.

Aber natürlich: Dass nun ab einer Inzidenz von über 100 Ausgangssperren verhängt werden, private Kontakte auf eine Person eines anderen Haushalts beschränkt oder der Friseurbesuch nur noch mit einem negativen Antigen-Schnelltest erlaubt ist, daran hat die Kanzlerin maßgeblich Anteil. Sie habe bei ihrer Vereidigung geschworen, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden, sagte Merkel bei Anne Will zur Einleitung dieser Kehrtwende in der Pandemiebekämpfung – weg von föderalistischer Pluralität hin zu mehr nationalstaatlichem Einheitshandeln. Über das Infektionsschutzgesetz fand die Kanzlerin den Durchgriff, den sie sich wünschte. Es war offensichtlich, dass Merkel den Gedanken nicht mehr ertrug, dass jedes Bundesland machte, was es wollte. Sie hatte nach dem Reinfall mit der Osterruhe, die schön klang, aber schlecht vorbereitet war, und den ermüdenden und wenig ertragreichen Runden mit den Regierungschefs den Eindruck, dass das aus ihrer Sicht wichtigste im Kampf gegen Corona aus den Augen geriet: weniger Infektionen, geringere Inzidenzen und weniger belastete Intensivstationen.

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Merkels Moment der Schwäche in der Stärke?

Merkel hat jedoch in einem Moment der Stärke, der sich auch darin manifestiert, dass die große Mehrheit der Bundesbürger ihre Haltung unterstützt, womöglich einen Fehler gemacht. Sie hat auf die vertraut, die zuletzt fast immer Recht behielten. So wie RKI-Chef Wieler oder Karl Lauterbach, die noch vor Ostern prophezeit hatten, Deutschland würde auf 100.000 Neuinfektionen am Tag und eine Inzidenz von 300 zusteuern, wenn nicht klar und hart reagiert würde.

Das tat die Bundesregierung mit der Notbremse. Aber schon die Worte, die Merkel wählte und das öffentliche Bohei, das um den Auftritt der Kanzlerin im Fernsehen gemacht worden war, verfehlten offenbar ihre Wirkung beim Bürger nicht. Eine vergleichbare Situation wie vor dem ersten Lockdown im März 2020, als allein die Bilder der Militärkonvois, die in Norditalien die Särge abtransportierten, ein Umdenken der Menschen auslöste. Womöglich erleben wie einen zweiten „Bergamo-Effekt“. Es war vielleicht ein Trugschluss zu glauben, die Menschen seien nach einem Jahr Pandemie so coronamüde, dass ihnen alles egal sei. Es besteht ein Unterschied zwischen Coronamüdigkeit und rücksichtslosem Verhalten. Und man kann weiter Respekt vor dieser tückischen Erkrankung haben. Und so steigen die Zahlen und Inzidenzen nicht auf das Niveau, wie es als Worst-Case-Szenario schon längst propagiert worden war. Zugegeben: Sie verharren auf einem hohen Niveau, von dem aus Lockerungen utopisch erscheinen, aber der Anstieg scheint gebremst.

Niedersachsens Corona-Zahlen – zwischen Baum und Borke

Niedersachsen ist ein gutes Beispiel. Zwischen Harz und Nordsee gibt es aktuell mehr Kreise und Städte, die bei der Inzidenz unter der alles beeinflussenden 100er-Marke liegen, als Kommunen, die schon Ausgangssperren verhängen mussten. 10 von 45 Kreisen und Städten bewegen sich an diesem Donnerstag zwischen einer Inzidenz von 100 und 90 – also zwischen Baum und Borke. Seit Tagen gibt es immer mehr Flecken, die sich auf der Inzidenz-Karte wieder heller einfärben, einige sind in Niedersachsen sogar schon gelb. Kein Vergleich mit dem dunkelroten Teint, den viele Teile Thüringens oder Sachsen aufweisen.

So positiv das ist, so schafft diese Uneindeutigkeit der Lage auch Unsicherheit, die Merkels Notbremse noch verschärfte. Denn in ihr ist die Inzidenzfixiertheit angelegt. Die Zahl 100 bestimmt die Lage, die Maßnahmen und viel schlimmer: auch die Zuständigkeiten. Allles unter 100 bestimmt das Land, alles darüber der Bund. Was die niedersächsische Staatskanzlei in einer Pressemitteilung am Tag des Inkrafttreten der Notbremse bei den Fragen der Rechtsgrundlagen als „zweigleisiges Herausfahren“ aus der Pandemie umschreibt, lähmt vermutlich die Aktivität derjenigen, die vor Ort handeln müssen. Denn was tun als Bürgermeister einer Kommune, die bei der Inzidenz schwankt wie ein betrunkener Seemann bei Windstärke 12? Soll man den Bürgern versprechen, die Ausgangssperre wird aufgehoben, wenn man es einen Tag später schon nicht mehr einhalten kann? Soll man Einzelhändlern Hoffnung auf Umsatz machen, wenn innerhalb von wenigen Tagen nur noch der Abholservice erlaubt sein könnte? Auch wenn die Notbremse Übergangsfristen von drei bzw. fünf Tagen vorsieht, an denen die Maßnahmen noch in Kraft bleiben, ist die Verunsicherung spürbar. Zumal seit Beginn der Pandemie ein Problem unlösbar zu sein scheint: die Nicht-Besetzung der Gesundheitsämter an den Wochenenden, verbunden mit einer zumeist analogen Weitergabe neuer Fälle, führt an jedem Montag zu der Erkenntnis: diese Inzidenzangabe ist ohne Gewähr.

Braunschweig tanzt den Inzidenz-Limbo

Die Stadt Braunschweig erlebt seit Wochen einen Inzidenz-Limbo – wie hoch ist die Stange, unter der durchgetanzt werden muss, lautet die Frage, die sich Bürger, Einzelhandel und Behörden stellen. So lag in Braunschweig die Inzidenz Mitte April bei 100, eine Woche später, als der Bundestag die Notbremse durchgewunken hatte, bei 110. Seitdem sinkt sie. Am 27. April meldete das RKI für die Löwenstadt 89,4. Die Ausgangssperre war vom Tisch und man beschloss jetzt, auch die Schulen in den Wechselunterricht zu schicken. Doch nun steigt die Inzidenz wieder. An diesem Donnerstag liegt sie bei 95. Und wer weiß, was nach dem Feiertag am Samstag der nächste Montag für Zahlen ausspuckt?

Es ist noch zu früh, zu sagen, ob Merkels Durchgriff seine Wirkung verfehlt hat. Fatal wäre es, wenn die Notbremse eben nicht dazu führt, dass sich die Lage auf den Intensivstationen bessert – und gleichzeitig Grundrechte eingeschränkt bleiben. Dieser hohe Preis, den Bürger zahlen, muss einem ebenso hohen Nutzen für die Allgemeinheit entsprechen. Entfällt der, wäre es ein schlechtes Geschäft. Dann hätte die Notbremse der Demokratie einen Bärendienst erwiesen, ihren Feinden aber Zulauf gebracht. Wer will, dass die Notbremse über den Juni hinaus verlängert wird, sollte genau abwägen. Überwiegen ihre Vor- oder ihre Nachteile?