„Die Grünen wollen mehr, als desillusionierte SPD-Wähler einzusammeln. Das neue Programm ist eine Kampfansage an die Union.“

Die grünen Stars hätten sich eine Show mit echtem Live-Publikum gewünscht: Wie zwei Motivationstrainer müssen Annalena Baerbock und Robert Habeck drei Tage über die Bühne im Berliner Tempodrom tigern. Dort ist eine Sendezentrale für den digitalen Parteitag aufgebaut. Die Parteichefs schauen in mehr als 700 Arbeitszimmer und Küchen, in denen zugeschaltete Delegierte hocken. Das alles könnte aufs sensible grüne Gemüt schlagen – wäre da nicht der op­timistische Blick ins Superwahljahr 2021.

Die Grünen wollen mehr, als desillusionierte SPD-Wähler einzusammeln. Das neue Programm ist eine Kampfansage an die Union. Die frühere Anti-Parteien-Partei bietet plötzlich Sicherheit an – vor Arbeitsplatzverlust, vor Terror und Kriminalität, vor der Klimakatastrophe. Darunter machen es die Grünen nicht. Reißt man aber die grüne Hochglanzfolie auf, tauchen unschöne Flecken auf. Wie beim Thema Menschenrechte und Flüchtlinge: Wo ketten sich mitregierende Grüne an die Gangway eines Abschiebe-Airbus, den ein CDU-Innenminister nach Afghanistan schickt? Klar, Pragmatismus gibt’s in allen Parteien. Bei den Grünen kann er Stimmen kosten. In der Klimapolitik sind sie PR-Profis, nur selten so radikal, wie sie behaupten. Bei Werten um die 20 Prozent kann die Parteispitze entspannt sein. Doch Fliehkräfte werden wachsen, je konkreter grüne Pläne im Wahljahr Kontur annehmen.

Größtes Plus bleibt die Geschlossenheit. Die CDU stolpert in die Nach-Merkel-Ära wie Corona-Schulen ins Internet. Bei den Grünen wird noch über Kapitalismus, Gentechnik, Nato oder Homöopathie gezofft – aber in milden Dosen und als Reminiszenz an wilde Gründerjahre. Bleibt es so, wenn nach Ostern Habeck und Baerbock die Kanzlerkandidatur entscheiden? Das Rennen ist offen. Mit Corona und ohne Merkel umso mehr.