„Zumindest intern müssen die Reihen geschlossen werden, um für die Herausforderungen des zweiten Halbjahres gerüstet zu sein.“

Die große Leere. Dieses Bild bleibt haften beim Blick auf das erste Halbjahr bei Volkswagen. Die große Leere auf dem VW-Parkplatz entlang des Mittellandkanals in Wolfsburg und auch vor den anderen Werken. Das Corona-Virus verursachte in Deutschland und rund um den Globus nicht nur ein medizinisches Problem, sondern eine Wirtschaftskrise in historischer Dimension. Weil das öffentliche Leben lahm gelegt war, brachen auch die Autoverkäufe ein und zwangen den Wolfsburger Autobauer zu Kurzarbeit. Geblieben war in diesen Tagen und Wochen eben – die große Leere.

Dass die Bänder wieder angefahren wurden, spiegelt nicht die Realität wider. Mit Ausnahme Chinas, dem weiterhin größten und wichtigsten Markt für die Wolfsburger, sind die übrigen Märkte weit von der Normalität entfernt. Und Wolfsburg, Braunschweig, Salzgitter produzieren nicht für China. In Deutschland lagen die Verkäufe im Juni immer noch ein Drittel unter dem Niveau des Vorjahres. Wann sich die Märkte zumindest stabilisieren, ist weiterhin offen. Eine laufende Produktion bringt nichts, wenn dahinter keine Kunden stehen. Da hilft auch der größte Optimismus nicht.

VW ist daher wie so viele andere Unternehmen auch darauf angewiesen, dass die Konjunktur so rasch wie möglich Fahrt aufnimmt und Geld ins Haus kommt. Ob die Konjunkturhilfen des Bundes geeignet sind, ist noch nicht erwiesen – zumal Autos mit Verbrennungsmotor von Kaufprämien nicht profitieren. Zusätzlich sorgen immer wieder neue Meldungen vom Abbau zehntausender Arbeitsplätze in großen Unternehmen für Verunsicherung. Wer kauft sich in Zeiten des Stellenabbaus und der Kurzarbeit schon ein neues Autos für 30.000 Euro oder mehr?

Zwar präsentierte VW in der Vergangenheit stets beeindruckende Milliardengewinne, die von wirtschaftlicher Potenz kündeten. Doch dürfte es im zweiten Quartal, auch wenn die Geschäftszahlen noch nicht vorliegen, empfindliche Einbußen gegeben haben. Nicht vergessen werden darf vor diesem Hintergrund, dass den Konzern trotz aller Verkaufserfolge in der Vergangenheit eine Schuldenlast von mehr als 365 Milliarden Euro drückt. Fährt der Autobauer nicht zügig mehr Liquidität ein, dann könnte das noch zu einem richtig großen Problem werden.

Auch unabhängig von Corona war es in Wolfsburg von Januar bis zur nahenden Sommerpause nicht langweilig – typisch VW. Die Aufarbeitung des Abgas-Betrugs schritt zwar voran, dieser Fortschritt musste aber wie bei dem Vergleich im Braunschweiger „Musterverfahren“ mit Millionen erkauft werden. Vor dem Bundesgerichtshof dagegen gab es für Volkswagen in einem Schadenersatzverfahren eines Einzelklägers eine Niederlage, die ebenfalls zu finanziellen Belastungen führt. Immerhin hat der US-Monitor Larry Thompson, der im Auftrag von US-Behörden die Aufarbeitung des Skandals in Wolfsburg begleitet, VW dafür ein gutes Zeugnis ausgestellt. Allerdings ging dies vor dem Hintergrund der Corona-Folgen und hausgemachter Probleme nahezu unter.

Ein gutes Zeugnis verpasste VW zum Beispiel bei der Einführung seines Brot-und-Butter-Autos Golf 8. Nicht nur, weil die direkte Markteinführung bei den Händlern wegen nicht funktionierender und unvollständig ausgestatteter Autos in die Hose ging. Softwareprobleme zwangen VW wenig später sogar zu einem Rückruf und einen Auslieferungsstopp des Golf 8.

Das erzürnte den Betriebsrat, der die VW-Führungsriege heftig kritisierte. Die Vertrauensleute der IG Metall in den deutschen VW-Werken verfassten Ende Mai gar einen bitterbösen Offenen Brief, in dem sie Konzernchef Herbert Diess und seine Vorstandskollegen aufforderten, Verantwortung für das „Produktdesaster“ zu übernehmen. Und beim rein elektrischen ID.3, der den Golf einmal beerben soll, verursachen Softwareprobleme bei den VW-Verantwortlichen ebenfalls tiefe Sorgenfalten und haben zu einer Verschiebung des Verkaufsstarts geführt. Vertrauen bei den Kunden wird so kaum aufgebaut, dabei wäre dies in Krisenzeiten so wichtig. Jedes verkaufte Auto zählt. Eine neue Software-Einheit soll nun allerdings ein neues digitales Zeitalter bei VW einläuten.

Auf Kosten des Vertrauens ging auch die peinliche Affäre um eine Werbevideo für den neuen Golf. In dem Filmchen, das über soziale Kanäle gepostet wurde, wird ein Schwarzer aus dem Bild geschnippt, zudem taucht kurz eine Buchstabenfolge auf, die als das Wort „Neger“ gelesen werden kann. Die öffentliche Empörung war groß. Nach ersten Versuchen, den Ball flach zu halten, entschuldigte sich VW für das Video und kündigte unter anderem neue Kontroll- und Freigabeprozesse an, damit sich solch ein Fauxpas nicht wiederholen kann. Allerdings dürfte es in einem riesigen Unternehmen wie Volkswagen nur ein Frage der Zeit sein, bis die nächste Verfehlung öffentlich wird.

Richtig ungemütlich wurde es in den vergangenen Wochen in einigen Vorstandsbüros. Die Juli-Bilanz: Traton-Chef Renschler weg, MAN-Chef Joachim Drees weg, Skoda-Chef Maier weg, Software-Chef Christian Senger weg. Einige Wochen zuvor krachte es in Wolfsburg. Konzernchef Diess musste die Leitung der Kernmarke VW an seinen bisherigen Stellvertreter Ralf Brandstätter abgeben. VW-intern wird dies als Erdbeben bewertet. Der verpatzte Anlauf des Golf 8 und auch das Skandal-Video überschritten die Schmerzgrenze der Arbeitnehmervertretung. Einmal mehr entflammte am Mittellandkanal ein Machtkampf, der zum Teil auch in der Öffentlichkeit ausgetragen wurde.

Die Ursachen für diese Auseinandersetzung verdrießen auch Manager und Top-Manager, wie aus Wolfsburg zu hören ist. „Wir kriegen die Produkte nicht hin, bei VW herrscht Chaos“, heißt es. Und auch, dass der Abstand zwischen Diess und dem Top-Management größer wird. Das liege an mangelnder Wertschätzung des Konzernchefs und fehlendem Vertrauen in die Kompetenz der Führungsriege. Auch ertrage Diess keinen Widerspruch.

Das alles hat es schon einmal gegeben, Streitkultur und Wertschätzung sollten zu den neuen Führungsqualitäten gehören, die sich VW mit seinem Kulturwandel selbst verordnet hat. Zusätzlich wird Diess eine fehlende Bindung zu unserer Region vorgeworfen. Dabei darf nicht vergessen werden, unter welchem Druck Diess steht. Es soll die Marke VW sanieren, die technische Transformation zu Digitalisierung und E-Mobilität steuern, und zu allem kommt noch die Corona-Krise hinzu.

Nun kehrt mit der Sommerpause die große Leere an die VW-Standorte zurück. Danach sollte, nein, muss es rasch aufwärts gehen, damit VW nicht tatsächlich in einen schwer zu stoppenden Abwärtsstrudel gerät. Nur wie, das ist die große, die zentrale Frage. Zumindest intern müssen die Reihen geschlossen werden, um für die Herausforderungen des zweiten Halbjahres gerüstet zu sein. Setzt sich die Corona-Krise fort, dann könnte es sein, dass Instrumente wie der „Zukunftspakt“ und sein Nachfolger „Roadmap Digitale Transformation“ nicht ausreichen. Schon geistert das Gespenst der Vier-Tage-Woche durch Wolfsburg.