„Wer nationalistische Machtansprüche und/oder fremdenfeindliche Parolen verkünden will, ist in dieser Stadt nicht willkommen.“

Als Auslandsdeutscher und Braunschweiger sehe ich mit Besorgnis auf den bevorstehenden 1. Advent in Braunschweig. Der AfD-Parteitag an diesem Ort hat eine historische Dimension, die selten diskutiert wird, aber kaum zu übersehen ist. Was bedeutet es, wenn die AfD sich in diese Geschichte stellt?

Braunschweig ist 2019 eine Stadt, deren Vielfalt und Internationalität sehr viel zu ihrem Wohlstand beigetragen hat. Das wirtschaftliche Rückgrat der Region ist das VW-Werk, das wesentlich von italienischen, türkischen und anderen Kollegen mit aufgebaut wurde. An der Universität sind Kommilitonen aus der ganzen Welt eine Selbstverständlichkeit, und in den vielen Forschungseinrichtungen ist internationale Zusammenarbeit Grundlage des Erfolgs.

Doch Braunschweig hat eine schwierige Geschichte. Wie jeder Braunschweiger weiß (oder wissen sollte), versammelte im Oktober 1931 Hitler 100.000 SA-Männer aus ganz Deutschland zu einer Kundgebung in Braunschweig – der größten jener Zeit. Auswärtige Besucher brachten Chaos in die Stadt; und zum Leidwesen vieler Braunschweiger wurde dieser Aufmarsch ein wichtiger Meilenstein in Hitlers Machtergreifung.

Ich gehöre zur Generation der Enkel, die als Jugendliche ihre Großeltern fragten: „Wie konnten die Gräueltaten der Nazis passieren?“ Zu unseren prägenden Jugenderinnerungen gehören die Diskussionen „Braunschweig unterm Hakenkreuz“ 1980, als Zeitzeugen im Städtischen Museum nicht nur ihre Erlebnisse schilderten, sondern nach den Ursachen suchten.

Mit der Erinnerung bleibt die Frage nach dem „Warum?“

Drei Meilensteine auf dem Weg zu Hitlers Machtergreifung sind mit dem Namen Braunschweig verbunden, genau genommen mit dem damaligen Land Braunschweig, das 1946 im Land Niedersachsen aufging. Die Stadt Braunschweig wurde in der Zeit vor 1933 von der SPD regiert, die damals noch mehr Arbeiterpartei als Volkspartei war. Der erste Meilenstein war die Koalitionsregierung nach der Landtagswahl von 1930. Im Wahlkampf von 1930 positionierte sich die Bürgerliche Einheitsliste als Alternative zur SPD, die das Land seit 1927 allein regiert hatte. Hauptgewinner der Wahl war die NSDAP, die insbesondere in ländlichen Kreisen Stimmen sammelte und 9 der 40 Mandate errang.

Um die SPD ablösen zu können, brauchten die Bürgerlichen also die Stimmen der Nazis. In der neuen Koalition gewann die NSDAP das Innenministerium und damit Kontrolle über Polizei und Bildungseinrichtungen. Die Bürgerlichen aber begaben sich aufs Glatteis. Die NSDAP zögerte nicht, die Macht im Innenministerium zu nutzen, um Schulräte und Kreisdirektoren zu ersetzen, während die Polizei die SA gewähren ließ.

In Braunschweig trug man Uniform

Der zweite Meilenstein war der SA-Aufmarsch am 17. und 18. Oktober 1931. Während die SA anderswo Uniformverbot hatte, ließ die Braunschweiger Landesregierung ihr freien Lauf und ermöglichte damit die militärische Kraftdemonstration der Harzburger Front und kurz darauf den SA-Großaufmarsch in Braunschweig. Hitler versammelte etwa 100.000 SA- und SS-Männer in Uniform. Diese noch nie dagewesene Machtdemonstration zielte darauf ab, die NSDAP als führende Kraft zu etablieren, ihren Alleinherrschaftsanspruch zu verkünden und Gegner einzuschüchtern.

Die von weither Angereisten richteten in der Stadt Chaos an; der Braunschweiger Volksfreund – das Organ der lokalen SPD – sprach von „Generalprobe zum Bürgerkrieg“.

Der dritte Meilenstein ist wohl am bekanntesten. Im Februar 1932 verhalf die Braunschweiger Landesregierung Hitler zur deutschen Staatsbürgerschaft, gerade rechtzeitig zur Reichspräsidentenwahl. Ein Schlupfloch im deutschen Recht ermöglichte es damals Landesregierungen, jemanden zum Beamten zu ernennen und ihm so die Staatsbürgerschaft zu verleihen. Hitler brauchte diesen legalen Trick, denn der normale Weg wäre für ihn als vorbestraftem Staatenlosen recht steinig geworden.

Der Versuch, Hitler eine Professur an der TH zu verschaffen, scheiterte zwar am Widerstand der Koalitionspartner, aber einer Anstellung in der Braunschweiger Repräsentanz in Berlin stimmten diese rasch zu. Der Wahlkampf von 1932 und der Erfolg, Hindenburg in die Verlängerung eines zweiten Wahlganges zu zwingen, waren massive Propagandaerfolge für die NSDAP. Der Braunschweiger Professor Ulrich Menzel argumentiert, dass deutsche Geschichte ohne Hitlers Braunschweiger Scheinanstellung ganz anders verlaufen wäre. Aber vielleicht war es 1932 dazu schon zu spät. Wenn die Bürgerlichen zu diesem Zeitpunkt einen offenen Konflikt mit dem Koalitionspartner gesucht hätten, hätte es Neuwahlen gegeben, die die Parteien der Mitte wohl verloren hätten. Danach hatten die bürgerlichen Parteien dem zunehmend unverfrorenen Innenminister Klagges wenig entgegenzustellen. Zum Beispiel, als die Leitung der Technischen Hochschule (heute TU) um die Professoren Carl Mühlenpfordt und Gustav Gassner – die auch konservative Grundwerte hatten – Zivilcourage bewies und Nazis in der Uni in die Schranken wies, erhielten sie von Politikern nicht mehr als nette Worte.

Die Bürgerlichen im Landtag und der Justiz wurden zu Steigbügelhaltern der NSDAP. Im Februar und März 1933 traf der Nazi-Terror Braunschweig schneller als andernorts; Verhaftungen und Folter zogen ein in der Stadt. Die Machtbasis in der Landesregierung gab der NSDAP Kontrolle über Polizei und Behörden, während SA und SS die Straßen beherrschten. Viele der Steigbügelhalter von 1931/32 wurden schnell ins Abseits gestellt und auch viele frühe NSDAP-Mitglieder wurden bald durch linientreuere Nazis ersetzt. Dann war Verfolgung und Terror kein Einhalt mehr zu gebieten.

Warum? Jahrzehnte später habe ich viele der Quellen wiedergelesen; die alten Fragen bleiben. Es gibt keine einfachen Antworten. Die Wirtschaftslage war schlecht; die globale Wirtschaftskrise traf Deutschland hart, die Arbeitslosigkeit war hoch, und das Kleinbürgertum fürchtete den sozialen Absturz. Zudem war die Gesellschaft polarisiert zwischen moderner Industriegesellschaft und traditioneller Landwirtschaft und zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum.

Aber mindestens so wichtig waren Einschüchterungen auf den Straßen und in den Medien. Martialisches Auftreten der SA und Gefechte mit Kommunisten verunsicherten die Bevölkerung. Die NSDAP betrieb aggressive Propaganda und präsentierte sich als einzige Macht, die den „Marxisten“ Einhalt gebieten könnte. Menschen, die SA-Untaten berichteten oder sich der SA entgegenstellten, wurden persönlich verleumdet. Rassistische Propaganda wurde im Kampf um bürgerliche Stimmen taktisch zurückgestellt. Aber nur vorübergehend: Schon am 8. Mai 1933 brannten vor dem Braunschweiger Schloss die Bücher.

Und nun? Da man einer nationalen Partei wie der AfD nicht Ignoranz der deutschen Geschichte unterstellen kann, folgt, dass die Wahl des Ortes mit seiner historischen Bedeutung bewusst getroffen wurde. Einem Braunschweiger läuft es bei diesem Gedanken eiskalt den Rücken herunter. Wer nationalistische Machtansprüche und/oder fremdenfeindliche Parolen verkünden will, ist in dieser Stadt nicht willkommen. Ebenso ist, wer nach Braunschweig kommt, um Chaos anzurichten, nicht willkommen. Wer in der Stadt Braunschweig aufgewachsen ist, kennt ihre Geschichte und ist deshalb besonders sensibel. Das „Nie wieder“ und das „Warum?“ führt unweigerlich zum „Wehret den Anfängen“. Respekt und Toleranz für ethnische, religiöse und andere Minderheiten sind kein Luxus, sondern das Fundament der freiheitlichen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland.