„Die Entscheidung für ein Pflegeheim darf kein Lotteriespiel mit der Menschenwürde sein.“

Denen, die der Ruhe pflegen, kommen manche ungelegen.Wilhelm Busch

Das vielleicht wichtigste Thema einer alternden Gesellschaft ist die Fürsorge in Zeiten, in denen der Mensch alleine nicht mehr zurecht kommt. In Deutschland waren nach den aktuellsten Zahlen des Statistischen Bundesamtes mehr als 3,4 Millionen Menschen pflegebedürftig. Diese Zahl steigt und steigt. 1999 lag sie noch bei etwas über zwei Millionen.

Das hat viele Gründe – die gestiegene Lebenserwartung und die Möglichkeiten der Medizin vor allem. Anders als zu Zeiten unserer Urgroßeltern kann sich ein alter Mensch heute nicht mehr selbstverständlich darauf verlassen, dass er oder sie von Sohn, Tochter, Schwiegersohn oder Schwiegertochter gepflegt wird. Obwohl es das noch immer sehr häufig geschieht – anrührende Beispiele kennt jeder von uns. Die Pflege in Heimen wird immer wichtiger.

Wer sich oder seine Mutter, seinen Vater einer solchen Einrichtung anvertraut, braucht die Gewissheit, dass er oder sie dort geborgen lebt. Aber wie erkennt man ein gutes Heim? Der bunte Werbeprospekt ist häufig das Papier nicht wert, auf dem er gedruckt wurde. Und dass die Internetauftritte in der Regel auf eine Kommentarfunktion verzichten, ist sicher kein Zufall. Der Besichtigungstermin vor Ort bringt schon mehr. Aber auch dort wird man nicht sehen, wie viele bettlägerige Menschen von Druckgeschwüren gepeinigt werden, die entstehen, weil Patienten zu selten umgelagert werden. Oder wie viele desorientierte Menschen mit „freiheitsentziehenden Maßnahmen“ arretiert sind, weil der personelle und räumliche Rahmen für eine menschenwürdigere Art des Schutzes nicht ausreicht. Man sieht nicht, wie viele Menschen stürzen oder wie viele mit Pillen ruhiggestellt werden. Man erlebt nicht das tatsächliche Klima zwischen Patienten und Pflegern und auch nicht den Umgang zwischen Unternehmen und Personal.

Pflege-Noten sollten Transparenz schaffen. Dieser Versuch darf als Schuss in den Ofen gelten. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), der sich der Verbesserung der Pflege mit erfreulichem Ehrgeiz annimmt, sagt: „Der bisherige Pflege-TÜV war leider eine Farce.“ Wenn eine Einrichtung mit der Note 1,6 schon zu den Ausreißern nach unten gehört, ist in der Tat Misstrauen am Platz. Die Noten ergaben sich aus dem Durchschnittswert unterschiedlicher Kriterien – dazu zählte die Qualität des Sozialraums wie die der Pflege. Die Bertelsmann-Stiftung versuchte, die Daten mit der „Weißen Liste“ differenzierter aufbereitet zur Verfügung zu stellen und musste am Ende ihr Scheitern einräumen.

Nun soll die Kombination der Selbstanalyse der Heime mit den Daten des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) mehr Klarheit schaffen. Mit Beginn dieses Monats laufen dessen Prüfungen nach neuem Muster. Besuche werden nur noch einen Tag zuvor angekündigt, Patienten werden befragt. Durch Gespräche mit den Pflegekräften soll der MDK zur Verbesserung beitragen. Bis Ende nächsten Jahres sollen sämtliche Pflegeheime einmal geprüft sein.

Spahn verspricht sich davon einen „Riesenschritt für mehr Vertrauen ins System“. Das neue Verfahren ist deutlich ernster gemeint als sein Vorgänger, dessen Desinformation immerhin zehn Jahre lang die Schlechtleister der Branche schützte, indem es sie mit den Besten gleichstellte. Aber wird es reichen? Wie tief können die Prüfer durch Besuch und Gespräche tatsächlich blicken? Heime mit guten Noten werden nur noch alle zwei Jahre gecheckt. Das ist für Patienten eine sehr lange Zeit.

Warum, so könnte man fragen, hat unser Staat eigentlich solche Abneigung gegen konsequente Kontrolle? Wolfgang Schäuble, zweifellos einer unserer klügsten Politiker, hat es so formuliert: „Der oft gedankenlos nachgeplapperte Satz von Lenin ,Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser’ führt in die totalitäre Diktatur.“ Das Bekenntnis zur Selbstverantwortung steht uns allen gut zu Gesicht. Aber wer es zu weit treibt, setzt sich dem Verdacht der Pflichtvergessenheit aus. Zu wenige Geschwindigkeits- und Alkoholkontrolle können die Verkehrssicherheit gefährden, zu seltene Betriebsprüfungen unsere steuerehrlichen Unternehmer in Versuchung führen – und eine zu oberflächliche Analyse von Pflegeheimen wird nichts für das Vertrauen von Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen tun.

Qualitätsprobleme können durch Schlamperei entstehen – aber auch durch Ausnutzung wirtschaftlicher Machtverhältnisse. Es gehört zu den ärgerlichsten Tatsachen der Arbeitsrealität Deutschlands, dass ausgerechnet ein Bereich, in dem der ganze Mensch so massiv gefordert ist, tariflich schlecht abgesichert ist. Mehr noch als in den meisten anderen Berufsfeldern müssen Fachkunde, Motivation, körperliche und seelische Belastbarkeit und soziales Engagement zusammenkommen.

Die Bezahlung der Pflegekräfte und ihre Arbeitsbedingungen hängen vielfach von der besseren Einsicht des Unternehmens ab. Sozial verantwortlich handelnde Anbieter erleiden so gegenüber Geldschneidern einen Wettbewerbsnachteil. Deshalb sind die Bemühungen wichtig, endlich einen Tarifvertrag zu schließen, den Bundesarbeitsminister Hubertus Heil für allgemeinverbindlich erklären kann. Rifat Fersahoglu-Weber, Vorstandsvorsitzender der Arbeiterwohlfahrt im Bezirksverband Braunschweig, und Rüdiger Becker, Direktor der Evangelischen Stiftung Neuerkerode, leisten hier Pionierarbeit, die bundesweit zu einer deutlichen Verbesserung führen müsste.

Vieles kann und muss getan werden, der neue Pflege-Tüv alleine wird es nicht richten. Die Entscheidung für ein Pflegeheim darf kein Lotteriespiel mit der Menschenwürde sein.