„Da beweist sich leider: Ideologische Verbohrtheit erzeugt dieselben Symptome wie Idiotie.„

„Wir haben es beim Antisemitismus mit einem Glaubenssystem zu tun. Antisemiten glauben, dass böse Mächte die Welt regieren. Sie glauben, dass Verschwörer hinter allem stecken und das sind normalerweise Juden und Freimaurer bzw. wie man heute sagt, Zionisten und Illuminaten. Das ist eine globale, ich sage es manchmal sogar Gegenreligion geworden, die sich ausgebreitet hat und jetzt noch mal ausbreitet durch das Internet.“
Michael Blume,
Religionswissenschaftler

Das Unfassbare, das Unerträgliche ist diese Woche geschehen. Ein Rechtsextremist hat in Halle zwei Menschen ermordet, mitten in der Stadt. Zwei weitere sind verletzt. Sein eigentliches Ziel war die jüdische Gemeinde. Offenbar haben nur die stabilen Türen der Synagoge ein Massaker verhindert. Diese Morde hätten nicht geschehen dürfen, gerade in Deutschland nicht. Und doch sind sie erschütternde Realität.

Wie konnte der Mann, unbemerkt von den Sicherheitsbehörden, Waffen und Sprengstoff an sich bringen? Warum hatte die Polizei in Halle am höchsten jüdischen Feiertag, dem Versöhnungsfest, keine Beamten zur Sicherung der Synagoge abgestellt? Der Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, Josef Schuster, spricht von schweren Versäumnissen. Viele Fragen müssen jetzt beantwortet werden. Wichtiger noch ist die Antwort, die unsere Gesellschaft gibt. Bundespräsident Steinmeier, Bundeskanzlerin Merkel, Innenminister Seehofer und viele, viele Bürger haben Signale der Solidarität an unsere jüdischen Mitbürger gesandt. Das ist notwendig geworden. Der Angriff auf die Synagoge in Halle, aber auch Attacken auf offener Straße, Drohanrufe und das ganze Arsenal der leider alltäglichen Hetzerei machen den Juden in Deutschland Angst. Und nicht immer ist die Reaktion von Staat und Gesellschaft so unzweideutig wie in dieser Woche. Unsere Mitbürger dürfen nicht den Eindruck bekommen, sie seien dem rechtsextremen Mob ausgeliefert.

Der Gedanke an die Opfer erfüllt jeden fühlenden Menschen mit Trauer – und führt fast zwangsläufig zu der Frage: Wer sagt, dass sich Ähnliches nicht auch in jeder anderen Stadt wiederholen könnte? Wer könnte guten Gewissens beruhigende Botschaften senden? Ein, zwei hasserfüllte Barbaren mit handelsüblichen Waffen können Terror über jede Stadt bringen. Wie kann der Staat seine Bürger vor Menschen schützen, die sich in ihrer Verblendung für eine Mischung aus Engel des Jüngsten Gerichts und Elitesoldat halten? Angesichts der Tat von Halle schleicht sich ein Gefühl der Wehrlosigkeit ein. Halle ging, wie die Kollegen der „Süddeutschen“ schrieben, in Deckung. Über Stunden war nicht klar, ob der Täter noch durch die Stadt streifte. Dort war die Gefahr unmittelbar. Der Rest der Republik mag sich der Stadt nahe gefühlt haben. Und das aus gutem Grund.

Allein in Niedersachsen zählt der Verfassungsschutz über 1100 Rechtsextremisten. Fast 900 von ihnen gelten als gewaltbereit. Wie ist der Gefahr zu begegnen? Wie kann der Rechtsstaat verhindern, dass Extremisten ein Land in Schrecken versetzen, in dem sie mit ihren verqueren Ideen doch in Wirklichkeit isoliert sind? Mancher von ihnen mag sich dem Irrglauben hingeben, ihre „Sache“ befinde sich im Aufwind. Denn gegenwärtig findet der eine oder andere ehrbare Bürger, man müsse mehr oder weniger unverblümt rassistischen Unsinn „doch noch mal sagen dürfen“.

Diese Aufweichung der Grenzen ist gefährlich. Wer sich nach Halle in den Foren der äußeren Rechten umsieht, findet nur sehr selten ein Wort des Entsetzens, der Scham und des Mitgefühls. Stattdessen wird da herumschwadroniert, dass die Waffe doch eine Attrappe und wie „auffällig“ die rasche Ankunft eines Fernsehteams sei, dass sich die Kanzlerin um „die deutschen Opfer“ anderer Straftaten nicht kümmere. Da beweist sich leider: Ideologische Verbohrtheit erzeugt dieselben Symptome wie Idiotie.

Bei allem Verständnis für die Sorge, dass Deutschland in Parallelgesellschaften zerfallen und die Kontrolle über seine innere und äußere Sicherheit verlieren könnte – hier werden die Grenzen zur geistigen Brandstiftung überschritten. Zugleich ist festzustellen, dass auch diese Mitbürger keine Unterstützer des Täters von Halle sind. Mit Mord haben diese Menschen nichts im Sinn. Sie müssen es aber deutlich sagen! Nichts ist in einem Moment der Anfechtung wichtiger als das Bekenntnis der gesamten Bürgergesellschaft, auch ihres rechten Randes, zur Toleranz, zur Gewaltfreiheit und den Werten unserer Verfassung. Es darf keine Missverständnisse über eine vermeintliche Sympathie und Unterstützung für Terroristen geben.

Die Selbsthypnose der Extremisten ist nur zu durchbrechen, wenn Menschen aller Schichten und Weltanschauungen gegen den Wahn eintreten. Familien, Lehrer, Arbeitgeber und Kollegen tragen hier besondere Verantwortung – als Korrektiv und als Frühwarnsystem.

Die Signale gegen den Terror bannen nicht die konkrete Gefahr. Da ist konsequente Arbeit von Polizei und Justiz gefragt. Hartes Vorgehen gegen den Kern der Szene, helfende Angebote an solche, die aussteigen wollen und nicht nur die Rache ihrer ehemaligen Gesinnungsgenossen, sondern auch die Perspektivlosigkeit nach einem Leben außerhalb der Gesellschaft fürchten müssen.

Viel wird hier von hervorragenden Fachleuten bereits geleistet. Aber es kann nicht genügen, solange sich Katastrophen wie der Mord an Regierungspräsident Walter Lübcke und den Opfern von Halle wiederholen. Auch die härtest mögliche Repression wird nicht von einem Tag auf den anderen Sicherheit schaffen. Und doch zeigt ein Detail, wie viel noch getan werden kann und muss. Der Mörder von Kassel konnte völlig legal Waffen kaufen, obwohl er eine amtsbekannte extremistische Biografie hatte. Sein Helfer durfte mit behördlichem Segen mit Sprengstoff umgehen.

Der NDR berichtete kürzlich, dass das auch bei uns möglich wäre. Das niedersächsische Innenministerium teilte der Grünen-Fraktion im Landtag mit, dass 30 als rechtsextrem eingestufte Personen im Besitz von Waffenbesitzkarten sind. Das bedeutet nach Sinn und Buchstabe des Waffengesetzes, dass ihre Heimat-Kommunen von ihrer Zuverlässigkeit und von der Berechtigung ihres Interesses am Umgang mit Waffen überzeugt sein müssten. Finden Sie das gespenstisch? Me too.

Die Kommunen sind als untere Waffenbehörde im Auftrag des Landes Niedersachsen und unter der Aufsicht von Polizeidirektionen und Innenministerium für den Vollzug des Waffengesetzes verantwortlich – und sollten dringend konsequenter auf die Informationen der Sicherheitsbehörden reagieren.

Noch ist völlig unklar, ob der Mörder von Halle tatsächlich ein isolierter Einzeltäter war. Hatte er Helfer, die ihn mit Waffen und den Zutaten für Sprengstoff versorgten? Die Arbeit der Ermittler wird es uns zeigen. Schon heute ist klar, dass wir alle eine Verantwortung haben: Hinzusehen und sofort die Polizei zu verständigen, wenn wir auf rechtsextreme Gewaltphantasien stoßen. Bundesjustizministerin Lambrecht will die Betreiber von Internetplattformen zwingen, solche Inhalte sofort anzuzeigen. Schlimm genug, dass dazu Druck des Gesetzgebers nötig ist. Und schade, dass es der Untat von Halle bedurfte, um das Überfällige auf den Weg zu bringen.