„Deutschland zerfällt in Zonen hohen Wohlstands und solchen, denen die Perspektive zu fehlen scheint.“

Abgeschlossen ist der Prozess des
Zusammenwachsens erst, wenn wir nicht mehr wissen, wer die neuen und wer die alten Bundesbürger sind.
Willy Brandt

Deutsche Einheit. Wie viel Zauber liegt in diesen Worten. Und welcher Anspruch. Das geteilte Deutschland hat zusammengefunden. Wider jede historische Wahrscheinlichkeit. Unter den misstrauischen Blicken der Nachbarn, die unterm Hakenkreuz deutsche Herrschsucht und deutsche Unmenschlichkeit erlebt hatten. Zum Tag der deutschen Einheit drängt sich die Frage auf: Wie einig sind wir denn wirklich?

Der Ost-Beauftragte der Bundesregierung meldet erfreuliche Fortschritte. Dass wir nach fast drei Jahrzehnten dennoch nicht über gleiche Löhne und gleiche Produktivität sprechen, könnte ein Zeichen für mangelnden Einsatz der reichen Brüder und Schwestern im Westen sein. Die gewaltigen Transferzahlungen sprechen dagegen. Deutschland West hat viel für Deutschland Ost getan. Mancher sagt: Zu Lasten strukturschwacher Regionen im Westen.

So erklärt sich die Länge der Reise eher aus der Distanz als aus der Geschwindigkeit. Die ostdeutsche Wirtschaft war mit wenigen Ausnahmen am Ende, was nicht an den Menschen lag, sondern an einem System, das Fleiß und neue Ideen erstickte. Gemessen daran ist der Wiederaufbau eine erstaunliche Erfolgsgeschichte.

Also alles easy? Man sollte die Pracht einer Boomtown wie Dresden nicht mit ostdeutscher Realität in der Fläche verwechseln. Deutschland zerfällt in Zonen hohen Wohlstands und solchen, denen die Perspektive zu fehlen scheint. Die gibt es auch, aber deutlich seltener, im Westen. Das hat Folgen. Legt man die Wirtschaftsdaten und die jüngeren Wahlergebnisse übereinander, wird man sehen, wie viel der Grad an Unzufriedenheit mit der An- oder Abwesenheit der blühenden Landschaften zu tun hat. Das geeinte Deutschland ist ein guter, verlässlicher Teil der europäischen Familie der Demokratien. Aber: Wenn aus der Unzufriedenheit kein Nährboden für rückwärts gewandte nationalistische und in Teilen faschistische Bewegungen werden soll, muss Deutschland für seine wirtschaftliche Einheit kämpfen. Einfacher wird es nicht werden. Der längste Aufschwung seit Menschengedenken scheint zu Ende zu sein. Was bisher aus dem Zuwachs verteilt werden konnte, wird umkämpfter sein denn je. Und die Rahmenbedingungen ändern sich. Wir machen uns heute noch viel zu wenig klar, was die Generationenpflicht Klimaschutz bedeuten kann. Einfach weiter so mit dem Ressourcenverbrauch, so wird es nicht gehen. Viel wäre geholfen, wenn sich Deutschland unter diesem Druck endlich von dem Bleimantel aus Prozess-Hanselei, Entscheidungsschwäche und Inkompetenz befreien würde, der sich über unser Land gelegt hat. Wir sind nicht imstande, einen Hauptstadtflughafen zu bauen, wir brauchen Generationen für eine Autobahn oder eine Schnellbahnstrecke, wir gehen sehenden Auges in die Wohnungsnot, wir verheddern uns in Länder-Eitelkeiten und verschlechtern damit die Bildungschancen unserer Kinder.

Das sind im ernstesten Sinne gesamtdeutsche Probleme. Ein träge gewordenes Deutschland riskiert seine Zukunft, während ihm junge, hungrige und exzellent gemanagte Gesellschaften nicht nur in Asien den Rang ablaufen. Sigmar Gabriel, der frühere Bundesaußenminister und SPD-Chef, hat dieser Tage die Weltabgewandtheit seiner Partei beklagt, weil sie sich den entscheidenden Zukunftsfragen nicht stelle. Da dürfen sich nicht nur die Sozialdemokraten angesprochen fühlen. Wer die deutsche Einheit erleben will, mag an eine ostdeutsche Hochschule gehen. Nach Erfurt oder Leipzig zum Beispiel. Da büffeln junge Leute aus allen Teilen der Republik mit fröhlicher Selbstverständlichkeit Seite an Seite, unter Bedingungen, die erstklassig sind. Daraus wächst Standortqualität – und eine Selbstverständlichkeit des Miteinanders, die noch lange nicht Allgemeingut ist. Deutsch-deutscher Austausch braucht mehr solcher Chancen.

Die Hochschulen und die Schulen sind ein Beispiel, dass sich viele Klischees überlebt haben. Starker Westen hilft marodem Osten? Von wegen. Von Sachsens Bildungs-qualität könnten sich Hamburg und Niedersachsen etwas abschneiden. Berlin sowieso. Sie sollten es endlich tun.

Deutsche Einheit entsteht aus Augenhöhe. Unsere ostdeutschen Mitbürger und ihre politischen Vertreter haben allen Grund zum Stolz auf ihre Aufbauleistung. Denn dass ihnen etwas geschenkt worden wäre, kann niemand ernsthaft behaupten. Viele könnten berichten, wie sie in den schweren Turbulenzen nach der Wende arbeitslos wurden – einmal, zweimal, dreimal. Sie könnten diesen Stolz ruhig deutlicher zeigen: So eine Art sächsisches, brandenburgisches, mecklenburg-vorpommersches, sachsen-anhaltinisches, thüringer Yes we can. Das würde manchen verstockten Wessi wachrütteln. Und, weil die Geschichte voll ist von Beispielen für die Macht der Symbole: Wenn RB Leipzig mit modernen Methoden und österreichischen Brause-Millionen deutscher Meister würde, das wäre – Verzeihung, liebe Bayern- und Dortmund-Fans – ein guter Beitrag zur deutschen Einheit.

Diesen Text hat NDR Info als

„Kommentar der Woche“ gesendet.

www.ndr.de/info/sendungen/kommentare/Yes-we-can-Zum-Tag-der-Deutschen-Einheit,tagderdeutscheneinheit290.html