„Fehlverhalten wird Normalfall, wenn es nicht korrigiert wird. Es geht um Verbindlichkeit: Was richtig ist, ist richtig. Was falsch ist, ist falsch.“

„Die Bestie in mir ist von schwachen und zerbrechlichen Schranken eingesperrt.“ (Johnny Cash, „The Beast in Me“)

Die Sonne strahlt, die Ferien haben vielen von uns ein schönes Stück Erholung geschenkt, unserem Land geht es insgesamt sehr gut. Dennoch: Ich mache mir Sorgen. Sorgen, dass der gesellschaftliche Konsens verloren gehen könnte.

Richard Borek, Ehrenbürger der Stadt Braunschweig, hat anlässlich der Verleihung dieser hochverdienten Würde vom Wert der Identität gesprochen. Ich habe ihm gerne zugehört. Gehört habe ich, später am selben Abend, aber auch einen anderen guten Mann, der sich ebenfalls helfend in der gesellschaftlichen Realität unserer Städte bewegt. Wo ist die Identität, sagte er, wenn wir kaum noch dieselbe Sprache sprechen, wenn gesellschaftliche Werte und Formen keineswegs verbindlich sind?

Für die These dieses klugen Mannes finden wir alle jeden Tag Belege. Angriffe auf Schwache und Starke, auch auf Polizisten und Feuerwehrleute gehören zum Alltag. Große Armleuchter sprühen das Kürzel für „All cops are bastards“ an Häuserwände. Wer empört sich darüber? Wer steht auf, wenn Menschen beleidigt werden, die den Rechtsfrieden in unserer Gesellschaft verteidigen – und nicht selten die Sprayer vor sich selbst und ihresgleichen schützen? Die Verrohung macht selbst am Kirchentor nicht halt. Die ehrenamtlichen Führer in unserem Dom St. Blasii berichten immer und immer wieder von Pöbeleien, wenn sie um Verhalten bitten, das einem Gotteshaus angemessen ist.

Nehmen Sie es mir nicht übel: Wir haben ein Problem. Ich glaube, dass wir Fehler gemacht haben. Traditionelle Werte wie Disziplin und Respekt verankern sich nicht von selbst in einer Gesellschaft. Sie müssen gefordert und trainiert werden. Wir tun es nicht konsequent genug.

Nehmen wir ein banales Beispiel. Stellen Sie sich einmal für eine einzige Stunde an eine der wichtigen Kreuzungen unserer Region. Sie werden mehrere Autofahrer sehen, die bei Rot, mindestens aber bei dunkelgelb über die Ampel fahren. Sie werden andere erleben, die hupen und wüst gestikulieren, bloß weil vor ihnen einer bei Grün nicht sofort losgefahren ist. Sie werden alte Menschen dabei beobachten, wie sie sich plagen, um so schnell wie möglich über die Straße zu kommen. Denn von der einen Seite kommt in hohem Tempo ein Radfahrer, der nur Zentimeter zwischen sich und dem alten Menschen lässt. Und von der anderen drängelt einer im Auto, der unbedingt sofort weiterfahren muss und den alten Menschen, die junge Mutter mit ihren kleinen Kindern nur als Behinderung seiner unendlichen Freiheit sieht. Das ist keine Übertreibung, sondern die platte Beschreibung alltäglicher Realität.

Das Fehlverhalten wird zum Normalfall, wenn es nicht angesprochen und korrigiert wird. Und hier geht es nicht nur um die Sicherheit unserer Straßenkreuzungen. Es geht um Verbindlichkeit in einer Gesellschaft. Was richtig ist, ist richtig. Und was falsch ist, ist falsch. Das gilt für den täglichen Umgang auf der Straße wie für die Auseinandersetzung über große Fragen.

Der Beschluss, die Bäume in der schönen Jasper-Allee in Braunschweig auszutauschen, kam demokratisch, rechtmäßig und auf guter Sachgrundlage zustande. Es kann nicht sein, dass sich irgendjemand ohne jeglichen Nachweis zum Sprecher einer heimlichen Mehrheit ausruft und damit durchkommt.

Die Planungen für den Weiterbau der Autobahn 39 bei Wolfsburg liegen auf Eis. Dabei ist diese Straße notwendig zur Entlastung und für die Sicherheit des Autobahnnetzes in unserer Region, sie erschließt eine strukturschwache Region, wird Arbeitsplätze schaffen und Staus beenden. Wenn dieser Autobahnbau durch Prozesstaktik verschleppt wird, wenn Einwände vor Gericht gebracht werden, die man schon während der Anhörungen laut und deutlich hätte sagen können, dann wird die Justiz zur Geisel von Interessengruppen.

Andersherum kann Justiz gefährliche Missverständnisse provozieren. Wenn Täter immer und immer wieder mit Bewährungsstrafen davonkommen, verliert die Gesellschaft ein wichtiges Instrument zur Durchsetzung der Regeltreue – die Abschreckung.

Disziplin, Respekt, der Blick auf das Gemeinwohl – das sind Werte, die unbedingte Geltung haben müssen.

Nicht alles, aber vieles hat mit unserem Willen zu tun, das Recht durchzusetzen. Ich habe mich deshalb gefreut, dass OLG-Präsident Wolfgang Scheibel und die niedersächsische Justizministerin Barbara Havliza in unserer Zeitung ein Bekenntnis zur Konsequenz abgelegt haben. Wir dürfen nicht zulassen, dass unsere Gesellschaft zu einem Flegelhaufen degeneriert. Wir müssen gegen brachialen Egoismus, gegen soziophobe Egozentrik angehen – auch mit den Mitteln der Justiz, wenn es anders nicht geht.

Wir sprechen hier über ein Thema von extremer politischer Bedeutung. Wenn Verbindlichkeit verloren geht, wächst die Unsicherheit die Unsicherheit wächst, haben radikale Rattenfänger leichtes Spiel.

Es gibt Menschen, die sich gegen diese Fehlentwicklungen stemmen. Die Lehrerin, die aus einem desolaten Egoistenhaufen einen Klassenverband formt und auf diesem Weg ihre eigenen Kollegen wie die Elternschaft hinter sich versammelt. Die sozialen Organisationen, die sich um die Schwachen kümmern und sie durch Gemeinsamkeit stark machen. Diejenigen, die gegen Rassisten und Geschichtsfälscher aufstehen, die für Toleranz und Respekt eintreten wie es der Betriebsrat von Volkswagen Braunschweig mit dem Sally-Perel-Preis tut. Manager, die mutig und klug in neue Technologien und in hervorragende Mitarbeiter investieren. Politiker, die Krusten aufbrechen und Gemeinsamkeit stiften, die unsere Region voranbringt. Eine Technische Universität, die nach den Sternen greift und die Niederlage als Ansporn versteht.

Sie sind es, auf die ich stolz bin, auf die wir alle stolz sein sollten. Sie sind es, die wir unterstützen müssen. Für solche Menschen und für solche Ziele lohnt es sich zu kämpfen. In der Redaktion einer Bürgerzeitung und an jedem anderen Platz.

Dieser Text fußt auf der Rede, die Chefredakteur Armin Maus beim Sommerfest des BZV Medienhauses gehalten hat.