„Es ist kein Ruhmesblatt, dass die Staats- und Regierungschefs das Spitzenkandidaten-Prinzip zerschlagen haben.“

Es sind markige Worte, die Sigmar Gabriel aus dem Harz seiner Partei zuruft. Ursula von der Leyen als neue EU-Kommissionspräsidentin? Eine Farce! Ein Akt beispielloser Trickserei! Was muss die SPD jetzt tun? Koalitionsbruch! Hat Gabriel recht? Überhaupt nicht.

Ja, es ist kein Ruhmesblatt, dass die Staats- und Regierungschefs das Spitzenkandidaten-Prinzip zerschlagen haben. In der SPD sind Wut und Frust darüber groß.

Die deutschen SPD-Abgeordneten im Europaparlament wollen von der Leyen nicht mitwählen. Das ist ihr gutes Recht. Zur Wahrheit gehört aber, dass die Genossen im Autokorso um das Willy-Brandt-Haus gefahren wären, wenn Frans Timmermans es an die EU-Spitze geschafft hätte. Der war zwar europäischer Spitzenkandidat der Sozialisten, aber Wahlverlierer. Nach der reinen Lehre hätte die SPD den glücklosen und von Merkel geopferten konservativen Wahlsieger Manfred Weber unterstützen müssen, was sie natürlich nicht tat. Die kommissarische Parteiführung in Berlin zwang die Kanzlerin immerhin dazu, sich bei der Abstimmung über von der Leyen zu enthalten. Das ist keine Kleinigkeit.

Einigen Puristen in der SPD ist das immer noch zu wenig. Sie sind zu Recht empört, dass populistische Rechtsausleger wie Ungarns Regierungschef Viktor Orbán Timmermans verhindert haben, und pflichten Gabriel bei. Die Partei müsse aus Prinzipientreue die Koalition verlassen. Das ist Quatsch. Die SPD darf eben nicht jede Personal- und Sachfrage zur Koalitionsfrage hochjazzen. Die deutschen Sozialdemokraten bekommen in Brüssel in diesen Tagen schmerzhaft ihren politischen Bedeutungsverlust vor Augen geführt. Wer bei der Europawahl nur noch eine 15 vor dem Komma stehen hat und in Berlin als waidwunder Regierungspartner herumläuft, kann nicht die Backen aufblasen und glauben, der Rest Europas lasse sich davon beeindrucken.