Nicht an Industrie und Politik senden die demonstrierenden Schüler ein starkes Signal: Sie halten allen Politikverdrossenen den Spiegel vor.

„Ich habe gelernt, dass man nie zu klein dafür ist, einen Unterschied zu machen.“ Greta Thunberg (16), Aktivistin

Freitagnachmittag, kurz nach Drei. Beim Schreiben dieser Kolumne werde ich jäh unterbrochen. „Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Zukunft klaut!“, schallt es von der Brüdernkirche hinauf in unsere Redaktion. Etwa 750 Jugendliche ziehen mit Transparenten und Megafonen durch die Braunschweiger Innenstadt. Immerhin 750 – schließlich sind Ferien. Sicher mag der ein oder andere Schüler besonders gerne am Freitag für Nachhaltigkeit und Umweltschutz demonstriert haben, weil die Demo mit Schulstreik verbunden war. Doch immer stärker gewinnt man den Eindruck, dass Klimaschutz wirklich eine Herzensangelegenheit vieler Jugendlicher ist. Denn der Klimawandel wird ja, trotz des gerade herrschen Aprilwetters, immer spürbarer:
• Zwischen dem 4. und dem
17. März sind sieben Sturmtiefs in Serie über uns hinweggefegt.
• 2018 war in Deutschland das wärmste und trockenste Jahr seit Beginn der Wetteraufzeichnungen.
• Meteorologen warnen schon vor einem weiteren Trockenjahr, der nasse März konnte tieferliegende Bodenschichten längst nicht sättigen. Bis Ende April wird es eher trocken weitergehen.

Wir müssen also gar nicht zu den schmelzenden Gletschern nach Grönland oder ins dürregeplagte Australien schauen, auch hier mehren sich die Zeichen für ein extremeres Klima. Die jugendlichen Demonstranten sind überzeugt, dass wir jetzt radikal umsteuern und den CO2-Ausstoß drastisch senken müssen. Sie fordern ein sofortiges Kohle-Aus und den Verzicht auf Verbrennungsmotoren. Für viele Unter-30-Jährige ist das Auto kein Statussymbol. Sie können dem Besitz einer PS-starken Karosse nichts abgewinnen, fahren (Fern-) Bus, Bahn oder Rad. Lastenräder sind längst nicht nur für ökobewegte Berliner Twens am Prenzlauer Berg das Hauptverkehrsmittel. Wenn es doch mal das Auto sein muss, nutzen sie Mitfahrzentralen, Carsharing oder Mietwagen – digital vernetzte Mobilitätsangebote machens’s möglich.

Wenn individuelle Mobilität in den Augen junger Menschen auch ohne eigenes Auto möglich ist, ist das eine substanzielle Bedrohung des traditionellen Geschäftsmodells von VW & Co. Sie ist wahrscheinlich noch fundamentaler als Dieselgate, strenge Abgasnormen, Brexit, Strafzölle und unausgereifte Elektronik beim Golf 8 zusammen. Insofern tut der Wolfsburger Konzern gut daran, auch auf Mobilitätsdienstleistungen wie die von Financial Services zu setzen.

Doch nicht nur an Industrie und Politik senden die demonstrierenden Schüler ein starkes Signal. Sie halten allen den Spiegel vor, die sich von Politik abgewandt haben, die nicht mehr am politischen Diskurs und an demokratischer Willensbildung (sprich: Wahlen) teilnehmen wollen. Sicher gibt es gerade besonders viele gute Gründe, am Tun mancher Volksvertreter zu zweifeln. Die Hängepartie um den Brexit ist so einer: Die Mehrheit der Briten hatte 2016 nun einmal für den Austritt aus der EU gestimmt. In knapp drei Jahren hat es die politische Klasse in London und Brüssel aber nicht geschafft, ein Austrittsszenario zu verhandeln, das extrem negative Folgen auf die Wirtschaft und ein Wiederaufflammen des Nordirland-Konflikts verhindern könnte. Nun ist der Brexit erst einmal auf Halloween verschoben – zum Gruseln!

Ähnlich unverständlich ist der Clinch um einen Vizepräsidentenposten im Bundestag. Am Donnerstag war zum siebten Mal ein Kandidat der AfD durchgefallen. Die rechte Partei ist mit 12,6 Prozent der Stimmen in freien, demokratischen Wahlen in den Bundestag eingezogen, laut Geschäftsordnung steht ihr so ein Amt zu. Jeder Anschein der Kungelei unter den etablierten Parteien dürfte die bestätigen, die dem Establishment Machtmissbrauch und Volksferne vorwerfen; Trump lässt grüßen. Die harte inhaltliche Auseinandersetzung mit Positionen der AfD ist – zumal, wenn die Abgrenzung vom Rechtsextremismus misslingt – absolut notwendig. Doch die pauschale Ausgrenzung eines demokratischen Mitbewerbers wird nur das Opfergejammer Alice Weidels verstärken.

Fraglich ist auch, wie Wähler den Streit innerhalb der SPD um den hiesigen Bezirksvorsitz empfinden. Hubertus Heil hat seinen Rückzug angekündigt – und nach Gutsherrenart den jungen Wolfsburger Bundestagsabgeordneten Falko Mohrs als seinen Favoriten für die Nachfolge benannt. Der Braunschweiger Unterbezirk äußerte „Unverständnis und Kritik“, schließlich kann auch der Braunschweiger Landtagsabgeordnete Christos Pantazis Bezirksvorsitzender. Doch der soll, so heißt es aus niedersächsischen SPD-Kreisen, bei Ministerpräsident Weil in Ungnade gefallen sein… Sei es, wie es sei – die SPD ist in der Region sicher nicht Volkspartei geblieben, weil sie sich mit sich selbst beschäftigt hätte. Vielmehr gelten ihre Repräsentanten als volksnah und gut vernetzt. Umso verstörender wirkt da Heils Alleingang.

Beispiele für eine Entkopplung zwischen Mandatsträgern und Wählern gäbe es noch etliche. Dennoch sollte selbst heftigstes Postengeschacher wie im Fall Maaßen oder das Brexit-Drama niemanden davon abhalten, im Mai an der Europawahl teilzunehmen. Sie wird entscheidend sein für die Frage, ob Europa in Zukunft geschlossener aufritt und sich bei alten und neuen Supermächten in Washington, Moskau und Peking Gehör verschaffen kann. Sollte unser Kontinent in Nationalstaaterei und Abschottung zurückfallen, wäre das für die Zukunft wohl ähnlich fatal wie der Klimawandel.

Damit sind wir wieder bei den 750 demonstrierenden Braunschweiger Schülern. Sahen wir in ihrer Generation bislang nicht eher wohlstandsverwöhnte, pausenlos Youtube konsumierende und Influencern hörige Materialisten? Offenbar geht es nicht allen Jugendlichen nur um Markenklamotten, Smartphones und Snapchat. Und natürlich war die pauschale Beurteilung einer ganzen Generation schon immer Quatsch. 1968 begehrten nicht alle jungen Leute auf und heute sind längst nicht alle politisch desinteressiert.

Dennoch: Es ist ein starkes Signal, wenn uns ausgerechnet Schüler sagen, dass wir uns einmischen sollten. Der Jungend gehört die Zukunft, hören wir auf sie!