Wolfgang Porsches Attacke auf den Volkswagen-Betriebsrat trägt Züge eines Entlastungsangriffs.

„Das Wissen muss ein Können werden.“ (Carl von Clausewitz, „Vom Kriege“)

Am Aschermittwoch ist alles vorbei, singen sie am Rhein. Es mag sich tatsächlich so anfühlen. Schließlich unterziehen sich die Jecken einiger Strapazen. „Wo früher meine Leber war, ist heute eine Minibar“, heißt es auf der Internetseite des „Kölner Stadtanzeigers“ in einer Story über nachlassende Alkoholresistenz ab 30 – bei der Austreibung der bösen Wintergeister kennt der Rheinländer keine Gnade.

Ungleich maßvoller ist der Karneval zwischen Harz und Heide. Da wird die Sau nicht rausgelassen, sondern höchstens am Gehege besucht. Und wer einmal das Glück hatte, auf einem der Wagen des Braunschweiger Schoduvel mitzufahren, der versteht, was der eigentliche Wert der Narretei in unseren Breiten ist. Das ist nicht nur der Spaß an der Verkleidung, an der Verpuppung in eine Identität auf Zeit. Da geht es vor allem um Gemeinsamkeit im Zeichen von Bolchen und Perücke: Die 5000 Aktiven, die den viertgrößten Zug Deutschlands möglich machen und die 200000 Jecken, die auch in diesem Jahr die Straßen säumten, werden in fröhlicher Buntheit eins. Zugmarschall Gerhard Baller strahlte nach dem gelungenen Zug, auch wenn Gerhard Glogowski, der auch in diesem Jahr natürlich an Bord war, sich nicht an vergleichbar schlechtes Wetter erinnern konnte. Den Bürgern war’s nämlich egal.

Wer steht da nicht in Eintracht Schulter an Schulter: Kinder, Frauen und Männer mit heller und mit dunkler Haut, ganz Junge und ganz Alte, solche mit runden und mit Mandelaugen, wohlhabende Leute und solche, denen anzusehen ist, dass sie jeden Euro umdrehen müssen. Aus den Augen vieler Kinder springt einen ungläubiges Staunen an: dass da fröhliche Menschen mit vollen Händen süße Leckereien über ihnen ausschütten, so mühe- und so bedingungslos. (Für ein kräftiges „Brunswieck Helau!“ kriegt man allerdings oft noch einen Wurf extra.) Wahrscheinlich ist der Schoduvel – wie seine kleinen Geschwister – die wirksamste Verständigung von Völkern und gesellschaftlichen Schichten, die sich denken lässt.

Am Aschermittwoch ist alles vorbei? Das schöne Erlebnis nehmen alle mit, wenn sie, müde und diesmal durchgeweicht, in ihren Alltag zurückkehren. Man muss kein geborener Karnevalist sein, um Anhänger des Schoduvel zu werden!

Für den harten Kern, der oft das ganze Jahr organisiert und probt, damit auch Prunksitzungen, Kinderkarneval und Besuche in Kitas oder Heimen möglich werden, beginnt der Karneval ohnehin gleich wieder. Beweis für ihren Rückhalt sind die Vorverkaufszahlen für die 48. Deutschen Meisterschaften im karnevalistischen Tanzsport, die am 30. und 31. März in der Braunschweiger VW-Halle stattfinden. Für den Braunschweiger Karneval ist die Austragung des Turniers so etwas wie der Ritterschlag. Es sieht sehr danach aus, dass sich Wolfgang Labersweiler, Geschäftsführer des Komitees Braunschweiger Karneval, über zwei ausverkaufte Tage freuen kann. Wer noch dabei sein will, sollte sich beeilen.

Bei Volkswagen fand diese Woche etwas statt, das durchaus an eine (wenngleich nicht karnevalistische) Geisteraustreibung erinnerte. Auch wenn Rekordzahlen etwas anderes verheißen: VW hat Probleme, die Stimmung ist toxisch, der Haussegen hängt schief. Kein guter Zustand für ein Unternehmen, das seine Kraft aus dem Einvernehmen zu schöpfen scheint. Vor diesem Hintergrund fuhr VW-Gesellschafter Wolfgang Porsche den Betriebsrat an, im Genfer Autosalon, vor den Augen der Autowelt. Porsche gilt als ausgleichender Mann. Die Frage, warum er Volkswagens Schwierigkeiten dem Betriebsrat zuordnet („Das schwierigste Thema ist Wolfsburg und der Grund dafür ist das dortige System“), bietet Anlass für Spekulationen.

Das „Handelsblatt“ hatte eine weltanschaulich gefestigte Interpretation parat. „Wenn er von einem System spricht, dann meint er vor allem den Betriebsrat. Mit Bernd Osterloh steht da ein besonders Wortgewaltiger an der Spitze. Er ist ein Machtzentrum, der schon so manche Umbauten verhindert hat“, schrieb das Blatt.

Es lohnt sich, die ritualisierte Kritik am Wolfsburger Mitbestimmungsmodell einen Augenblick lang zu unterlassen und stattdessen das Gedächtnis zu bemühen. Wer übt seit Jahren scharfe Kritik am wirtschaftlich mörderischen Varianten-Wildwuchs der Konzern-Modelle, wer prangerte die Vernachlässigung des US-Marktes und der IT-Kompetenz sowie das Schneckentempo bei Entscheidungen an? Es waren weder die Spitzen des Management noch die Familien Porsche und Piëch – sondern der Betriebsratschef Osterloh. Der konterte denn auch mit schmerzhaften Hinweisen, wo es im Wolfsburger Konzern klemmt.

Wolfgang Porsches Attacke trägt Züge eines Entlastungsangriffs. Dieses militärische Manöver soll „eine Stadt, Burg, Festung oder eingeschlossene Truppe von außen aus der Einschließung befreien und ihr dadurch wieder Handlungsfreiheit verschaffen“, wie Wikipedia schreibt, die Encyclopedia Britannica unseres Jahrhunderts. Wenn Konzernchef Herbert Diess weitere Sparprogramme durchbringen will, es ist von einem Umfang von sechs Milliarden Euro die Rede, braucht er nicht nur den Rückhalt der Familien Porsche und Piëch, den Wolfgang Porsche zum Ausdruck bringt. Es kann auch nicht schaden, wenn man von teuren Fehlern ablenkt. Wikipedia liefert allerdings spektakuläre Beispiele für den Fehlschlag solcher Entlastungsangriffe, von der Schlacht bei Alesia im Gallischen Krieg im Jahre 52 v. Chr. bis zur Belagerung von Konstantinopel 1453.

Langjährige VW-Kenner wissen: Das Unternehmen war immer dann am erfolgreichsten, wenn Management und Belegschaft an einem Strang zogen. Der Einfluss der Betriebsräte bei VW (den Begriff Co-Management hören sie selbst mindestens so ungern wie die offiziell bestellten Unternehmenslenker) hat Entscheidungen zwar nicht beschleunigt, aber häufig deutlich verbessert.

Ein Teil der Wirtschaftspresse zeichnet ein Bild vom Innenleben dieses Unternehmens, das an Oberflächlichkeit kaum zu übertreffen ist. Ihr wichtigstes Requisit ist „der starke Mann Osterloh“. Nun ist das „System Wolfsburg“ aber kein Marvel-Comic. Es lebt nicht von dem wilden Mann, der bibbernden Managern willkürlich ins Steuer greift, sondern von der Gemeinsamkeit des Managements, der Gesellschafter und einer mitdenkenden Belegschaft. Die stellt an ihr Unternehmen hohe Ansprüche, das ist wohl wahr. Aber sie ist auch immer wieder bereit, unbequeme beste Wege zu suchen.

Das „Handelsblatt“ schrieb: „In den Reihen des Managements wurden Porsches Äußerungen Worte positiv aufgenommen.“ Es kommt sehr darauf an, wen man fragt. Hochrangige Gesprächspartner sorgen sich unser Redaktion gegenüber eher, was der Krawall anrichten könnte. Am Betriebsrats-Bashing beteiligen sie sich nicht.

VW ist ein Unternehmen mit sehr eigener Kultur. Dieselskandal, Rentabilitätsprobleme und die autokratischen Irrwege der Vergangenheit zeigen deren Schattenseite. Festzuhalten ist aber auch: Kaum eine andere Firma schafft eine ähnlich stabile Verbindung von wirtschaftlicher Leistung, Innovation und Gemeinwohldienlichkeit, allemal durch die Sicherung und den Ausbau deutscher Arbeitsplätze.

Nun steht Volkswagen vor ungekannten Herausforderungen, von der Bewältigung des Skandals über Elektromobilität, Vernetzung, autonomes Fahren bis hin zu Anfechtungen durch die Plattformen der US-Internetkonzerne. Da wäre ein Appell an die Veränderungsbereitschaft nachvollziehbar. Manche finden für Wolfgang Porsches Genfer Auftritt eine andere, beunruhigende Erklärung: Falls er nämlich glauben sollte, Herbert Diess bedürfe zur Stützung einer Demontage des Betriebsrates, stellte er die Stärke des Vorstandsvorsitzenden infrage. Unstrittig ist Diess’ hohe fachliche Qualität, große Zweifel bestehen, ob er bereit ist, VW in Respekt zu verändern. Auch da ist manche Schwarz-Weiß-Malerei im Spiel. Jeder Import eines Ex-BMW-Managers wurde gleich als Kränkung der VW-Identität interpretiert. Falls Diess den Wolfsburger Riesen aber tatsächlich nach dem Bilde der Bayerischen Motoren Werke formen wollte, würde viel von der Kraft auf der Strecke bleiben, die Volkswagen braucht.

Die Kunst der Geisteraustreibung liegt wohl darin, die bösen zu verjagen und die guten zu hegen.