Natürlich kommt die Frage, was man tun müsse, um Gabriel zurück in die Bundespolitik zu bringen. Zuerst mal meine Frau überzeugen, sagt er und lacht.

Oft ist’s der eigne Geist, der Rettung schafft, die wir beim Himmel suchen.William Shakespeare

Minutenlanger Beifall. Sigmar Gabriel nimmt ihn mit einem Gesichtsausdruck entgegen, den man als grimmige Demut beschreiben könnte. Wenn das mal diejenigen sehen könnten, die ihn für überheblich halten. Viele wünschen sich Gabriel an die SPD-Spitze zurück, heute ist er erstmal zu Gast bei den Industrie- und Handelskammern Braunschweig und Lüneburg-Wolfsburg (ein Hoch auf die Zusammenarbeit!). Er hat über Europa gesprochen, über Macrons North-Stream-Wende, europäische Berechenbarkeit und Deutschlands Dimension. Das sind selbst für ein Unternehmerpublikum spröde Themen. Aber der Goslarer ist als Welterklärer schwer zu übertreffen.

Die Essenz: Deutschland braucht Europa und darf sich über die Interessen seiner Partner nicht hinwegsetzen. Diese Forderung mag irritieren, in einem Land, das sich in der Regel als „Zahlmeister“ empfindet. Gabriels Spiegel zeigt ein anderes Bild. Gerne habe Deutschland die Last der Flüchtlinge über viele Jahre den Ländern an der EU-Außengrenze überlassen – und dürfe sich nun nicht wundern, wenn sich diese Partner nun wenig kooperativ zeigten. Deutschland geriere sich als Öko-Vorturner, lade seinen Windstrom mangels eigener Trassen aber im polnischen Netz ab – zu Lasten polnischer Kraftwerke. Deutsches Selbstbild und Fremdbild hatte er schon in seinem lesenswerten Buch „Zeitenwende in der Weltpolitik“ (Herder) kontrastiert.

Gabriel zitiert Henry Kissinger, den in Fürth geborenen ehemaligen US-Außenminister und legendären Pendel-Diplomaten: „Deutschland ist zu groß für Europa und zu klein für die Welt.“ Für Gabriel steckt darin erkennbar nicht nur eine Antwort auf die Frage, ob Deutschland die Europäische Union braucht, sondern auch auf diejenige, wie es sich innerhalb Europas verhalten sollte. „Wenn man den Laden zusammenhalten will (gemeint ist die EU), muss man sich in die Schuhe des schwächsten Partners stellen“, sagt der ehemalige Umwelt-, Wirtschafts- und Außenminister. Gabriel als Anti-Trump! Der Große, der in kleine Schuhe steigt: Genau so hatte deutsche Außenpolitik zu Genschers Zeiten funktioniert. Da spielten für Deuschland die Positionen auch der kleinen Partnerländer eine bedeutende Rolle – was deren Unterstützung für deutsche Interessen sicherte.

Den Laden Europa zusammenhalten – da sieht der einschlägig erfahrene Ex-SPD-Chef schwere Defizite Berlins, selbst im Umgang mit dem wichtigsten Partner, Frankreich. Macrons überraschende Hinwendung zu einer neuen EU-Direktive, die das deutsch-russische Gas-Pipeline-Projekt gefährden könnte, interpretiert er als Reaktion auf Deutschlands Unvermögen, Macrons konkrete europapolitische Vorschläge auch nur einer Antwort zu würdigen. Den Aachener Freundschaftsvertrag schmäht er als bloße Absichtserklärung. Die harte Linie der verbleibenden EU-Länder gegenüber Großbritannien in der Brexit-Frage hält Gabriel für unklug. Das „wirtschaftliche Powerhouse“ werde der EU nicht nur ökonomisch fehlen, sondern auch als politischer Faktor. Eine Union ohne London, aber mit weiteren südosteuropäischen Staaten, sie werde nicht mehr die EU sein, die wir kennen.

Falls es konkreter Beschreibungen bedurfte, wie wichtig Europa für den Wohlstand in Deutschland ist, liefern sie auf dem Podium Jochen Stöbich, mit seinem Goslarer Unternehmen Weltmarktführer im baulichen Brandschutz, und Christoph Bretschneider, Geschäftsführer der Braunschweiger BBR-Verkehrstechnik. Sie berichten unter anderem von der teuren Qual, Produkte in jedem Land neu testen und zulassen zu müssen.

Europas Paralyse trifft auf eine Welt im Umbruch. Kissingers Zitat stammt aus einer Zeit, in der Amerika Sicherheit durch Verträge, Bündnisse und einen gewissen Interessenausgleich schuf. Der Begriff der Wertegemeinschaft hatte Konjunktur. Mit Trump kam der Wechsel von der Werte-Bindung zum nationalen Egoismus: „Für Trump ist die Welt eine Kampfbahn“, sagt Gabriel. Und der Gegner im Kampf um die Vorherrschaft in der Welt sei längst nicht mehr Russland, sondern China.

Respekt könne ein Land wie Deutschland nur erwarten, so lange es wirtschaftlich stark sei. Gabriels Ruf nach selbstbewussterer, weitsichtigerer und klarer den Eigeninteressen dienenden Politik auf den Punkt gebracht: „Wir sind die letzten Vegetarier in einer Welt der Fleischfresser“, sagt er und meint: „Wir werden mindestens Flexitarier werden müssen.“

Die Veränderungen der weltweiten Wirtschaft vergleicht er mit dem Eisberg, dessen Gefährlichkeit unterschätzt wird, weil nur ein kleiner Teil aus dem Wasser ragt. Wenn sich die wirtschaftlichen Grundlagen des Wohlstandes rasant verschieben, wenn statt des Produktes plötzlich die Plattform für Wertschöpfung sorgt, wenn die Finanzierung der Sozialsysteme über sozialversicherungspflichtige Jobs ins Rutschen kommt, weil in der Plattform-Ökonomie plötzlich viele zu Ein-Mann-Unternehmern werden, dann könne man sich nicht auf dem gegenwärtigen wirtschaftlichen Erfolg ausruhen.

Gabriel zitiert eines der augenfälligen Beispiele für halbherzige Weichenstellung. Während China 150 Milliarden Dollar in Künstliche Intelligenz steckt, sind es in Deutschland gerade drei. „Aber für einen sieben Jahre früheren Ausstieg aus der Kohle geben wir 80 Milliarden Euro aus.“

Natürlich kommt am Ende die Frage, was man denn tun müsse, um Gabriel zurück in die Bundespolitik zu bringen. „Da müssen Sie zuerst mal meine Frau überzeugen“, sagt er und lacht. Es muss ein schönes Gefühl sein, zurückgesehnt zu werden.