„Wir alle sind heute Publizisten. Aber nur die wenigsten von uns können mit der sich daraus ergebenden Verantwortung umgehen.“
„Ein treuer Zeuge lügt nicht; aber ein falscher Zeuge redet frech Lügen.“
Bibel, Sprüche 14,5
Zdenek Gazda, aus Tschechien stammender Feuerwehrmann, war für kurze Zeit einer der erfolgreichsten Internet-Publizisten. Sein Twitter-Post verzeichnet 11,8 Millionen Abrufe. Anhänger des heutigen US-Präsidenten Trump feierten ihn als Helden, weil er dem Präsidentschaftswahlkampf eine Wende gegeben habe.
Ob der Mann wusste, was er tat? Geschehen war folgendes: Trumps Rivalin Hillary Clinton leidet an einer Lungenentzündung, macht aber trotzdem Wahlkampf. Beim Gedenken an die Opfer des Anschlags vom 11. September merkt sie, wie sehr ihr die schwül-heiße Witterung zusetzt, Clinton lässt sich zum Auto führen. Beim Einsteigen sacken ihr die Beine weg. Gazda filmt das, nur 19 Sekunden lang, und postet es im Internet. Binnen kürzester Zeit ist der „Kollaps“ ein weltweiter Renner. Unkommentiert, ohne jegliche Recherche des Hintergrundes. Und Hillary Clinton muss sich erklären, ob sie gesundheitlich in der Lage sei, das Amt des US-Präsidenten auszuüben.
Ein professioneller Journalist hätte abwägen müssen, ob es ein öffentliches Interesse gibt, das schwerer wiegt als Clintons Persönlichkeitsrechte. Er hätte recherchiert, ob es wirklich ein „Kollaps“ war – oder doch nur eine kurze Schwäche. Er hätte ohne große Mühe herausfinden können, dass Frau Clinton schlicht ein paar Tage strenge Bettruhe brauchte, die Erkrankung also keineswegs ihre Eignung infrage stellte. All das geschah natürlich. Nur hatten bis dahin schon Millionen von Menschen den Eindruck, Frau Clinton sei fertig, am Boden, nicht stark genug fürs Weiße Haus.
Social Media sind, so sehr sie unser Zusammenleben bereichern, ein Tummelplatz der ganzen, halben, gefühlten und erfundenen Wahrheiten. Nur wie stellen wir fest, ob wir einer Information glauben können? Der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen, einer der kenntnisreichsten seiner Zunft, zitierte den Fall Gazda diese Woche bei einem Symposium zum 70. Geburtstag unserer Schwester Westdeutsche Allgemeine Zeitung in Essen. Denn er ist ein Beispiel für das doppelte Dilemma, in das uns die großen Möglichkeiten des Internets stürzen.
Jeder von uns, egal ob er das Handwerk des Journalisten, des Bäckers, Bauarbeiters oder des Verwaltungsangestellten gelernt hat, ist heute Publizist. So wie der Mann, der Clinton filmte, sind wir alle jederzeit in der Lage, potenziell ein Millionenpublikum zu erreichen. Das Ereignis muss nur spektakulär oder ungewöhnlich genug sein. Aber nur die wenigsten von uns können mit der sich daraus ergebenden Verantwortung umgehen. Bei der Bewertung der Verlässlichkeit einer Nachricht sieht es nicht immer besser aus.
Wer publiziert, greift womöglich in anderer Menschen Leben ein. Man muss sich nicht bis Amerika zu blicken, um weitere Beispiele zu finden. Das peinliche Bild eines Mitschülers in der Whats-App-Gruppe, das sich in Windeseile weiterverbreitet. Das Partyfoto eines Freundes, der zu tief ins Glas geblickt hat und nun im Internet, das ja kein Vergessen kennt, für alle Zeiten als Trunkenbold aufzufinden ist. Die Bildzeile, die nicht erkennen lässt, ob sie nur so dahin geschrieben ist oder verbürgte Information enthält. Fast jeder kennt solche Fälle. Pörksens Folgerung ist naheliegend. Wenn wir vermeiden wollen, dass wir anderen Menschen leichtfertig schaden oder unsererseits Falschmeldungen aufsitzen, helfen schärfere Gesetze nicht viel weiter. Besser wäre es, wenn wir alle gelernt hätten, die Folgen unseres Publizierens einzuschätzen. Und wenn wir alle könnten, was Journalisten während ihrer Ausbildung lernen: Informationen kritisch zu überprüfen, falsche und richtige Zusammenhänge zu erkennen, den Wert von Quellen zu bewerten.
Die Genauigkeit ist unter Druck geraten. Das Beispiel eines für beide Protagonisten ziemlich peinlichen Fernseh-Interviews zeigte diese Woche, dass sich selbst Profis vor Trugschlüssen hüten müssen. Da vertrat die zweifellos tüchtige Marietta Slomka im Gespräch mit Verkehrsminister Scheuer die These, die Diesel-Fahrverbote in Teilen einiger Innenstädte seien die Folge fehlender Nachrüstung manipulierter Motoren.
Das ist, weil es auch ganz ohne Manipulation leider viele ältere Autos, Lieferwagen, Lkws und Busse mit hohen Abgaswerten gibt, barer Unsinn. Die manipulierten Motoren sind nur ein kleiner Teil des Problems, wobei zum Beispiel Volkswagen in der überwältigenden Mehrheit der Fälle die Manipulation unter behördlicher Aufsicht bereits abgestellt hat.
Wir alle finden es völlig normal, dass Deutsch, Englisch, Mathe, Physik, Geschichte oder Religion als Schulfächer unterrichtet werden. Medienkunde läuft dagegen nebenher. Wie viele Schüler haben das Glück, besonders engagierte Lehrer zu haben, die mit ihnen zum Beispiel an Mediacampus, dem medienpädagogischen Projekt unserer Zeitung, teilnehmen? Wie viele Azubis werden in Betrieben ausgebildet, die ihnen das Lernen im Projekt „Zukunft bilden“ oder in anderen Initiativen ermöglichen? Wie groß ist die medienkundliche Expertise von Lehrern, die ein Fachstudium mit ganz anderen Inhalten absolviert haben?
Pörksen sagt, Medienkunde muss Schulfach werden. Es ist ein guter Rat an eine Gesellschaft, die vom Austausch von Meinungen, Informationen und Wissen lebt.