“Sollten dereinst amerikanische Laienrichter das Newtonsche Gravitationsgesetz für ungültig erklären, müssten wir aufpassen, nicht davonzuschweben.“

Ein Schwurgericht in den USA hat entschieden: Der ehemalige Hausmeister Dewayne Johnson, der jahrelang den Unkrautvernichter Glyphosat bei der Arbeit eingesetzt hat, bekommt knapp 254 Millionen Euro Schmerzensgeld vom Hersteller Monsanto (jetzt Bayer). Johnson leidet an Lymphdrüsenkrebs. Monsanto habe nicht auf die Krebsgefahr hingewiesen, die von Glyphosat ausgehe, so die Urteilsbegründung.

Die Bayer-Aktie befindet sich seit dem Urteil im Sinkflug. Bei Umweltaktivisten und vielen Politikern übernahmen sofort die üblichen Reflexe. Die ehemalige Verbraucherschutzministerin Renate Künast (Grüne), die bereits seit längerer Zeit ein ausgesprochen angespanntes Verhältnis zu Fakten pflegt, forderte im Deutschlandfunk umgehend ein Glyphosat-Verbot. Der Moderator der Sendung ging in der Anmoderation noch einen Schritt weiter und behauptete gar, es sei nun eine Tatsache, dass Glyphosat krebserregend sei.

Das offenbart einen interessanten Blick auf die Realität: Sollten dereinst zwölf amerikanische Laienrichter das Newtonsche Gravitationsgesetz für ungültig erklären, müssten wir alle aufpassen, nicht davonzuschweben.

Denn anders als in vielen Berichten impliziert, liegt dem Urteil kein neuer Sachstand zugrunde. Im Gegenteil: Im November 2017 stellte der Abschlussbericht der „Agricultural Health Study“ in den USA fest, dass kein Zusammenhang zwischen Glyphosat und Krebs gefunden werden konnte. Forscher hatten rund 20 Jahre lang mehr als 40 000 Farmer begleitet, die Glyphosat bei ihrer Arbeit anwenden. Die wissenschaftliche Risikobewertung von Glyphosat bleibt somit unverändert: Das Bundesinstitut für Risikobewertung, die europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit Efsa, die europäische Chemikalienagentur ECHA, die US-Umweltbehörde EPA und jede Menge weitere Regulierungsbehörden betrachten Glyphosat bei sachgemäßem Gebrauch als nicht krebserregend.

Einzig die Internationale Krebsforschungsagentur (IARC) kam 2015 zu einer anderen Einschätzung. Allerdings bewertet die gar nicht das Risiko, sondern die grundsätzliche Fähigkeit von Substanzen und Handlungen, Krebs hervorzurufen. Entsprechend spielt die reale Belastung, der Menschen ausgesetzt sind, keine Rolle. Es finden somit auch Studien Beachtung, in denen beispielsweise extreme Dosen eines Mittels direkt in Eier von Vögeln oder Amphibien gespritzt werden.

Diese durchaus fragwürdige Herangehensweise hat dazu geführt, dass die IARC von den 1006 bisher untersuchten Substanzen und Einflüssen nur eine einzige als wahrscheinlich nicht krebserregend eingestuft hat. Unter diesen Bedingungen müssten sich wohl selbst Mineralwasserhersteller Sorgen machen, wenn die IARC ihr Produkt unter die Lupe nähme.

All das mag auf den ersten Blick amüsant erscheinen, führt aber zu einer erschreckenden Erkenntnis: Dass es in dem Prozess in Kalifornien nicht um Fakten ging, sondern um den Ruf des Angeklagten. Andernfalls müsste sich jeder
Kaffee-Röster, jeder Winzer, jede Brauerei und jeder Wurstfabrikant in den USA auf millionenschwere Schmerzensgeld-Klagen einstellen.

Gesalzener Fisch, rotes Fleisch und Kaffee werden von der IARC nämlich in dieselbe Kategorie eingeordnet wie Glyphosat: wahrscheinlich krebserregend. Wurst und Alkohol schaffen es sogar in Kategorie 1: krebserregend. Jeder Krebskranke, der in seinem Leben schon einmal ein Bier getrunken hat, könnte die Brauerei verklagen – immerhin fehlt auch auf Bierflaschen der Hinweis darauf, dass der Inhalt Krebs erzeugen könnte.

Der Unterschied liegt nicht in der Beweislage, sondern im Ansehen des Angeklagten. Monsanto dürfte zu den unbeliebtesten Unternehmen des Planeten zählen. Umweltaktivisten sprechen gern von „Monsatan“, und wer den Gerüchten Glauben schenkt, die im Internet über den Konzern verbreitet werden, muss davon ausgehen, dass allein die Geldgier die Firma bisher davon abgehalten hat, die gesamte Menschheit auszurotten.

Der US-Wissenschaftspublizist Brian Dunning hat deswegen den ironischen Begriff des „argumentum ad monsantium“ geprägt – angelehnt an das in der Rhetorik bekannte Scheinargument „ad hominem“, in dem die Position eines Streitgegners nicht mit Argumenten, sondern mit einem Angriff auf die Person herausgefordert wird.

Die erwähnte Renate Künast hat zu diesem grotesken Rufmord ihren Beitrag geleistet. 2016 beteiligte sie sich am „Monsanto-Tribunal“, bei dem das Unternehmen in einem mittelalterlich anmutenden Scheinprozess in Den Haag an den Pranger gestellt wurde.

Auch das Urteil aus den USA erinnert an eine zum Glück überwundene Form der Rechtsprechung. Nach germanischem Recht wurden Urteile nicht etwa auf der Basis von Beweisen, sondern nach dem Leumund gefällt. Wer viele Zeugen vorbringen konnte, die sich für den tadellosen Charakter des Angeklagten verbürgten, durfte auf Milde oder Freispruch hoffen. Das Gericht in Kalifornien ist nun hinter die jahrtausendealten Standards des römischen Rechts zurückgefallen, die diese Praxis beendeten. Ein Sieg für den Verbraucherschutz ist das sicher nicht.