„Und was nützte es dem Lebenstedter,wenn Angela Merkel auf Initiative Alice Weidels wegen der Flüchtlingspolitik vor Gerichtgestellt würde?“

„Die Demokratie setzt die Vernunft
im Volke voraus, die sie erst
hervorbringen soll.“


Karl Jaspers

Wut-Wahl, politisches Erdbeben, tektonische Verschiebung – viele Beobachter bewerten die Bundestagswahl 2017 als historisches Ereignis. CDU/CSU abgestraft, die SPD an der Schwelle von der Volks- zur Klientelpartei, keine klaren Mehrheiten und eine politische Kraft rechts der Union mit mehr als 90 Abgeordneten im Bundestag – so stark wie gerade hat sich die politische Landschaft seit 1990 nicht mehr verändert. Offensichtlich sind viele Menschen in unserem Land unzufrieden, obwohl die Konjunktur brummt und es nur noch halb so viele Arbeitslose gibt wie 2005. Ja, rational betrachtet müssen wir doch ganz zufrieden sein!

Denkste! Am Sonntag gingen 14,7 Millionen Menschen überhaupt nicht zur Wahl; 5,9 Millionen machten ihr Kreuzchen bei der AfD. Weshalb ließen sie ihr Stimmrecht verfallen – oder wählten eine Partei, die Leute mit rechtsextremen, völkischen oder und rassistischen Positionen in ihren Reihen duldet?

Besonders rational ist das nicht. Statt von der Vernunft haben sich viele Nicht- und AfD-Wähler von Gefühlen leiten lassen: Vom Gefühl, Flüchtlinge überschwemmten unser Land oder das Deutsche sei gar vom Aussterben bedroht. Vom Gefühl, abgehängt zu sein. Oder vom Gefühl, „die da oben“ seien an allem schuld. Aus solchen Gefühlen entsteht Angst – und im schlimmsten Fall Hass. „Deshalb braucht unsere Gesellschaft jetzt am dringendsten Rationalität und Vernunft“, sagte Professor Joachim Block am Mittwoch unter der Braunschweiger „Cloud der Wissenschaft“. Der Physiker, Standortchef des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt in Braunschweig und Göttingen, sprach als einer von 23 Spitzenforschern aus der Region über Zukunftsfragen. Dabei ließ er wie viele Wissenschaftler seine Interpretation des Wahlergebnisses einfließen. Die Historikerin Ute Daniel warnte eindringlich, sich nach einfachen Antworten und klar strukturierten politischen Machtverhältnissen wie im 19. Jahrhundert zu sehnen: „Genau diese autokratischen Systeme waren in der Lage, den Ersten Weltkrieg zu entfesseln.“ Politikwissenschaftler Ulrich Menzel wurde noch deutlicher: „Der Jargon des Alexander Gauland am Wahlabend erinnerte an Hitler.“ Die AfD wolle nun Merkel jagen und sich das Volk zurückholen, hatte der Spitzenkandidat getönt.

Noch viel übler als Gaulands Halali war ein Facebook-Post, den ein AfD-Mann in Salzgitter am Wahlabend absetzte: Nun beginne „die nächste Phase im Krieg gegen dieses widerwärtigste System, das je auf deutschem Boden existierte“. Zwar löschte der Kreisverband den Eintrag, doch die Distanzierung wirkte halbherzig: Da habe jemand im Siegestaumel ein Bier zu viel getrunken. Inzwischen scheint die AfD Salzgitter knietief im braunen Sumpf zu stehen: Ein Parteimitglied postete auf seiner privaten Seite das Horst-Wessel-Lied, zwei polizeibekannte Rechtsextreme halfen vor der Wahl beim Plakatieren.

Ungeachtet dieser Blindheit auf dem rechten Auge erreichte die neue Partei in Salzgitter-Leben stedt bis zu 42,8 Prozent der Zweitstimmen. In Salzgitter und besonders in Lebenstedt geht Protest fürwahr nicht nur auf gefühlte Benachteiligung zurück, sondern auf echte Probleme. Die Arbeitslosenquote ist hoch, in vielen Vierteln gibt es seit Jahren Integrationsprobleme mit Einwanderern. Manche Salzgitteraner sprechen von ihrer Heimat nur noch als „Salzghetto“.

Professor Blocks Appell an die Vernunft sollten allerdings auch die Protestwähler aus der Stahlstadt bedenken. Denn für ihre Probleme gibt es keine einfachen Lösungen, wie sie die AfD verspricht. Und was nützte es dem Lebenstedter, wenn Angela Merkel auf Initiative Alice Weidels wegen der Flüchtlingspolitik vor Gericht gestellt würde?

Davon hätten auch die zahlreichen AfD-Wähler in Sachsen wenig. In den Nachrichtensendungen sind nun verbitterte Erzgebirgler zu bestaunen, die Frau Merkel die Schuld geben, dass es in ihrem Dorf keine Schule, kein Geschäft und keine Gaststätte mehr gibt. Damit offenbaren die Befragten ein Staatsverständnis aus tiefsten DDR-Zeiten: Der SED-Staat nahm seinen Bürgern von Kinderbetreuung bis Berufswahl alles ab, Eigeninitiative war weder nötig noch erwünscht. Dass damals freie Meinungsäußerung im Stasi-Knast enden konnte, haben diese Jammer-Ossis offenbar erfolgreich verdrängt. Der Riss durch unser Land scheint seit der Wiedervereinigung nie tiefer gewesen zu sein als heute. Rational erklärbar ist das kaum, denn gleichzeitig lagen die Lebensverhältnisse in Ost und West noch nie so nah beieinander.

Was fangen wir nun mit diesem Wahlergebnis an? Nehmen wir es doch zunächst mal rational zur Kenntnis! 12,6 Prozent der Wähler gaben der AfD ihre Stimme, aber 87,4 Prozent eben nicht. Ins Berliner Kanzleramt ziehen keine Twitter-geilen, Trump-artigen Polit-Amateure, allenfalls kann die Regierungsbildung dieses Mal ein wenig länger dauern als vor vier oder acht Jahren. Jamaika verspricht ein ebenso spannendes politisches Projekt zu werden wie einst Rot-Grün. Eine neue Regierung dürfte – das versprechen die Konjunkturprognosen – genügend Steuergeld zu verteilen haben. Sie sollte die sozialen Probleme anpacken, die der AfD – rational betrachtet – einige „Wut-Wähler“ gebracht haben. Viele von ihnen dürften für andere Parteien durch eine zupackende Politik zurückzugewinnen sein. Das Reservoir an knallharten Konservativen oder noch weiter rechtsstehenden Wählern dürfte jedenfalls nicht noch einmal für 12,6 Prozent der Stimmen reichen.