Berlin. In der sächsischen Gemeinde Dorfchemnitz haben 47,4 Prozent die AfD gewählt. Was bewegt die Menschen in dem Ort?

Wer Friedmar Gernegroß besucht, wird als Erstes gewarnt: „Passen Sie auf Ihren Kopf auf!“ Gernegroß ist 67 Jahre alt, trägt stolz seinen weißen langen Bart, er ist Holzkünstler, und in seiner Werkstatt müssen sich Gäste wegen der niedrigen Decke immer etwas bücken. Darin umgibt er sich mit Nussknackern und Engeln in allen Größen. Seine Spezialität sind senkrecht stehende Walnussschalen, Mini-Schaukästen, in denen winzige Szenen eingebaut sind: ein Liebespaar, ein Ross mit Reiter oder die Mutter Maria mit Kind. Bevor man mit ihm über Politik sprechen kann, fragt er: „Was ist wichtiger für Sie, Gesundheit oder Glück?“ Wer auf Gesundheit tippt, bekommt diese Antwort: „Sind Sie sicher? Die Leute auf der ‚Titanic‘ waren alle gesund, aber Glück hatten sie nicht.“ Er lacht selbst, weil dieser morbide Scherz wohl immer funktioniert. Gerade hier, in seinem Dorf am Bächlein Chemnitz.

Friedmar Gernegroß ist einer von 1564 Einwohnern von Dorfchemnitz, ein Mann, der gern
seine Tür aufmacht und jeden hereinbittet. Rund 1200 Bürger waren wahlberechtigt am vergangenen Sonntag, 865 davon haben gewählt, und davon fast jeder zweite die AfD, jene Partei, die vor allem mit der Angst vor Überfremdung Stimmen machte. Es ist auch jene Partei, deren Chefin Frauke Petry kurz nach der Wahl mit der Fraktion und Partei nichts mehr zu tun haben will. In Dorfchemnitz stimmten 47,4 Prozent für die AfD, es ist die höchste Quote in ganz Deutschland. Der Ausländeranteil in Dorfchemnitz liegt bei 0,4 Prozent. Man kann auch sagen: Es gibt keine Fremden in Dorfchemnitz. Woher kommt diese Wut auf die „etablierten“ Parteien? Woher kommt diese Enttäuschung?

Die Sparkasse kommt mit einem Bus alle zwei Wochen

Der Bürgermeister von Dorfchemnitz, Thomas Schurig, ist nicht überrascht. „Mitte September hatte die AfD eine Wahlveranstaltung bei uns im Gasthof“, sagt er, „die war nicht nur gut besucht, sondern es war eine wirklich gute Veranstaltung.“ Frauke Petry war gekommen mit Heiko Hessenkemper von der AfD Freiburg, einem Universitätsprofessor. „Sie sprachen nicht über Flüchtlinge, sondern erinnerten daran, was uns Deutsche ausmacht, was unser Zusammengehörigkeitsgefühl bedeutet.“ Sie seien weder aggressiv, noch wurden irgendwelche Parolen gegrölt. „Sie haben uns auch zugehört“, sagt der Politiker der Freien Wähler, „und dann hilft es nicht, wenn wir im Nachhinein im Internet als Nazi-Dorfchemnitz beschimpft werden.“ Der 55-Jährige sagt, dass er gern auch die anderen Parteien empfangen hätte. „Aber von denen ließ sich keiner blicken.“

Schurig weiß, dass sein Ort von außen betrachtet beneidenswert schön aussieht, gerade jetzt im Herbst. Die vielen Bäume werden abwechselnd gelb und rot, die Wände und Dächer sind saniert, viele Solaranlagen, drei Windräder auf dem Hügel. Jedes zweite Haus gehört
einem florierenden Handwerksbetrieb: Tischler, Friseur, Bäcker, Fleischer, Dachdecker, Gärtner, Tiefbau, noch ein Tischler. Arbeitslose kennt man nicht im Ort. Insgesamt sind es 40 Betriebe. Auf einer Bank steht das Wort „Plauderecke“, der Kindergarten heißt „Bergzwerge“ und an der Tür der Kirche prangt der Spruch für den Monat September: „Lukas 13,30. Und siehe, es sind Letzte, die werden die Ersten sein, und Erste, die werden die Letzen sein.“

Doch Gernegroß, der bärtige Holzschnitzer, ist nicht der Einzige, der sofort die Probleme dieses Dorfes aufzählen kann: Die
Busanbindung sei schlecht, die Straßen seit Jahrzehnten unsaniert, die Mobilfunk- und Internetverbindung sehr langsam, der letzte Lebensmittelladen schloss vor zwei Jahren, die Sparkasse kommt mit einem Bus alle zwei Wochen für 45 Minuten.

Besonders schlimm traf die Einwohner die Schließung der Schule. „Es gab eine Unterschriftenaktion mit 700 Unterschriften“, sagt Gernegroß, „die wurde nicht einmal beachtet.“ Mit einer Schule sterbe ein Stück Kultur. „Das war hier klassisches CDU-Gebiet“, sagt er, „aber die Menschen hier fühlten sich nicht mehr ernst genommen.“ Er selbst habe FDP gewählt, aber er habe mitbekommen, im Skat- und im Volleyballverein, wie sich die Stimmung verändert habe.

Die meisten Bürger wollen auch über die Probleme sprechen, sie wollen gehört werden. Einer sagt, „wir sind doch die Abgehängten hier“, weil sich niemand mehr um sie kümmere. Ein anderer ruft mit einer Feile in der Hand: „Sehen Sie zu, dass Sie Land gewinnen!“ Eine dritte Bürgerin zeigt auf den Hügel: „Hinter dem Berg ist Clausnitz“, sagt sie, „und Sie wissen ja, was da passiert ist.“

Im Februar 2016 wurde dort ein Bus Flüchtlinge von einem Mob daran gehindert, in ein Heim einzuziehen. Der Bus mit der Aufschrift „Reisegenuss“, die Rufe „Haut ab!“ und der Polizist, der einen Jungen aus dem Bus zerrte – das
Video davon zeigt bis heute die dunkelste Seite Sachsens im Umgang mit Flüchtlingen.

Bürgermeister Schurig hat seine eigene Theorie darüber, was Anfang des vergangenen Jahres in Clausnitz passiert sei. „Das waren doch höchstens 20 Demonstranten“, sagt er, „und auch sonst haben das die Medien aufbauscht.“ Den Videobeweis lässt er nicht gelten. Außerdem hätten auch die Flüchtlinge nicht aussteigen wollen. „Sie wollten lieber in eine Großstadt.“ Auch er findet es nicht gut, dass Flüchtlingen so viel „geschenkt“ werde. Mit jedem Satz verteidigt er ein Stück seiner Heimat, versucht er, seine Nachbarn zu verstehen. „Wir haben hier keine Nazis im Dorf“, sagt er. „Und ich habe auch keine AfD gewählt; bis ich das mache, muss noch was ganz anderes passieren.“ Aber er findet es gut, dass ihm plötzlich zugehört werde. Vielleicht habe sich die Wahl schon deshalb gelohnt. Vor der Wahl redeten die Bürger nicht viel miteinander, sagen sie. Es gibt überhaupt wenige Treffpunkte für die Einwohner. Keine Kneipe, wenige Feste.

Fast jedes Haus hat neben einem Hund noch einen zweiten Bewacher: eine Statue aus einem Baumstumpf geschnitzt. Mal sind es Bären, mal Füchse, mal alte Männer mit einem langen Bart. Sie sehen aus wie freundliche Geister, die über den Dorffrieden hier im Tal wachen. Oben auf dem Hügel, mit Blick auf die Kirche gegenüber, neben der langsam die Sonne untergeht, wachen vor einem Haus drei große Holzraben. Daneben öffnet Silke O. die Tür. Die 41-Jährige hat zwei Kinder, arbeitet als Erste-Hilfe-Trainerin und lebt gern hier. „Natürlich ist es idyllisch in Dorfchemnitz“, sagt sie, „aber es soll eben auch so bleiben, deswegen habe ich AfD gewählt.“ Sie sagt mehrfach, dass sie nichts gegen Flüchtlinge habe. „Ich habe schon mit einigen gearbeitet, das hat gut funktioniert.“ Sie ist gegen den Schießbefehl an der Grenze, für das Holocaust-Mahnmal in Berlin. Aber im Internat ihres Sohnes, da sei neulich ein Flüchtling mit einem Messer über den Zaun gesprungen. „Das passierte einen Tag vor der Wahl, da hatte ich gerade meine Entscheidung gefällt.“