Braunschweig. Ein Leipziger Professor spricht über autoritäre Strömungen in diesem Land, aber auch den zweifelhaften Aufruf, den er selbst 2015 unterzeichnet hat.

Vor kurzem hielt Elmar Brähler im Braunschweiger Haus der Wissenschaft auf Einladung des „Forums gegen Rechts“ einen Vortrag über „Autoritäre Dynamiken in der Mitte der Gesellschaft“. Ein Telefoninterview.

Sehr geehrter Herr Prof. Brähler, wir alle sind an Warnungen gewöhnt, an Hinweise darauf, dass Gefahren zunehmen. Manchmal denke ich, dass dies damit zusammenhängt, dass die Warnenden desto relevanter sind, je alarmierender ihre Warnung ausfällt. Überraschenderweise teilen Sie als Urheber der „Leipziger Autoritarismusstudie“ nun mit, der Anteil der Rechtsextremisten in unserem Land sei gesunken. Waren Sie auch erfreut?

Ja, zunächst einmal ist das erfreulich. Der Anteil derjenigen mit einem „geschlossen rechtsextremen Weltbild“ ist unserer Studie zufolge auf 2,7 Prozent gesunken. Doch natürlich muss ich gleich ein bisschen Wasser in den Wein gießen. Unsere Erhebung hat kurz nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine begonnen – und die Eskalation des Krieges im Februar hat doch einiges durcheinandergewirbelt. Die Ampel-Koalition, die zuvor miserable Werte hatte, konnte sich plötzlich eines wesentlich größeren Rückhalts gewiss sein. Doch nicht für lange Zeit: Schon Ende 2022 haben wir festgestellt, dass dieser Effekt vorbei war. Eine große Online-Studie zu den Ängsten der Menschen kam zu demselben Ergebnis: Vor gut einem Jahr hatten viele Menschen vor allem Angst. Offenbar dämpfte das die rechtsextremen Neigungen – vorübergehend.

Der Leipziger Wissenschaftler Elmar Brähler auf einem Foto aus dem November 2022.
Der Leipziger Wissenschaftler Elmar Brähler auf einem Foto aus dem November 2022. © picture alliance/dpa | Kay Nietfeld

Schade. Doch bevor wir das inhaltlich vertiefen, möchte ich Sie bitten, kurz zu erläutern, wie Sie als Professor für Medizinische Psychologie eigentlich zu diesen durch und durch politischen Themen gekommen sind.

Ich bin über Horst-Eberhard Richter in diese Forschung geraten, dessen Mitarbeiter ich 20 Jahre war. Und Richter, der Psychiater und Philosoph, hat mir beigebracht: Die Medizin und die Psychologie sind nicht so unpolitisch, wie die meisten Mediziner und Psychologen das gerne annehmen. Schon 1975 haben Richter und ich eine Untersuchung über NPD-Wähler gemacht. Auch an die große Sinus-Studie über die Bundesrepublik zu Anfang der 80er Jahre möchte ich erinnern. Der Titel war übrigens „5 Millionen Deutsche: Wir sollten wieder einen Führer haben…“. Viele Menschen denken ja, der Rechtsextremismus sei quasi erst nach der Wende entstanden. Das stimmt weder für die Bundesrepublik noch für die DDR.

Wie genau gewinnen Sie Ihre Erkenntnisse für die Leipziger Autoritarismus-Studie?

Seit 2002 befragen wir eine repräsentative Gruppe von Menschen alle zwei Jahre mit dem gleichen Instrumentarium. Wir haben angefangen mit einem Fragebogen zur Messung rechtsextremer Einstellungen, der von einer ganzen Gruppe von Experten entwickelt wurde. Darin gibt es mehrere Perspektiven: Antisemitismus, Ausländerfeindlichkeit, Verherrlichung des Nationalsozialismus… Hinzu kommen Themen wie Antifeminismus und Islamfeindlichkeit. Im Kern geht es darum, herauszufinden, wie viele Menschen inwiefern der Auffassung sind, dass verschiedene Menschen einen grundsätzlich verschiedenen Wert haben. Außerdem haben wir stets nach „autoritären Einstellungen“ gefragt, getrennt von dem Rechtsextremismus-Thema, denn natürlich gibt es autoritäre Einstellungen auch im politisch linken Lager – wenn auch nicht so stark wie auf Rechtsaußen.

Was entgegnen Sie, wenn moniert wird, dass die Menschen in solchen Fragebögen keineswegs die Wahrheit schreiben müssen?

Ja, wir erfahren nur, was die Menschen antworten, das dürfen wir nicht unbedacht mit der Wahrheit gleichsetzen. Denken Sie an die Wahlforschung, die auch oft genug danebenliegt. 2006 aber haben wir uns etwas einfallen lassen, um diese Effekte näher zu beleuchten. Wir haben die Befragung um Gruppeninterviews in zehn deutschen Städten ergänzt. Und siehe da: Personen, die sich im Fragebogen rechtsextrem geäußert hatten, taten es auch im Gespräch. Aber unter den Personen, die im Fragebogen unverfänglich geantwortet haben, gab es doch etliche, die im Gespräch radikale Positionen offenbarten. Der Faktor „soziale Erwünschtheit“ ist also immer zu berücksichtigen, etwa bei verpönten Thesen aus dem antisemitischen Bereich. Doch aus meiner Sicht entwertet das die Ergebnisse nicht grundsätzlich. Die Tradition solcher Arbeiten kann sich ohnehin sehen lassen: Schon 1950 haben Else Frenkel-Brunswik und Theodor Adorno ihre Studie über die „Autoritäre Persönlichkeit“ publiziert, in der dem Autoritarismus eine große Rolle bei der Entstehung des Nationalsozialismus zugesprochen wurde. Auch in dieser Pionierstudie wurden schon Interviews ausgewertet. Das ist nicht so neu, wie manche denken.

Neonazis, Reichsbürger, Querdenker, Corona-Leugner… Niedersachsens Innenministerin Daniela Behrens hat das jetzt als „Melange“ bezeichnet. Nun kämen, sagte sie, noch putinfreundlich eingestellte Russland-Anhänger dazu. Da sind wir wieder bei dem Krieg, den Sie erwähnten...

Oh ja. Die meisten Deutschen mit autoritärem oder rechtsextremem Weltbild stehen nach meinem Eindruck auf Seiten Russlands. Es gibt aber auch Rechtsextreme, die auf Seiten der Ukraine sind und dort Anknüpfungspunkte finden. Wie erwähnt: Dieses Thema wirbelt viel durcheinander. Man beobachtet ja auch, etwa bei den Grünen, diverse ehemalige Pazifistinnen und Pazifisten, die plötzlich Expertinnen und Experten für Haubitzen geworden sind. Auch diejenigen, die sich in der SPD der Tradition der Entspannungspolitik Willy Brandts verpflichtet fühlen, werden in die Ecke der Putinversteher gerückt.

Wenn Sie das so sagen, klingt das in meinen Ohren so, als ob Sie nicht der Meinung wären, dass sich die Russlandpolitik der SPD als fataler Irrweg herausgestellt hat. Ich möchte in dem Zusammenhang an einen Aufruf des „Willy-Brandt-Kreises“ von 2015 erinnern, in dem es gegen Sanktionen ging und in dem es hieß, die Einverleibung der Krim durch Russland dürfe nicht „gegen den Mehrheitswillen der Bevölkerung“ rückgängig gemacht werden. Sie haben diesen Aufruf damals unterzeichnet. Finden Sie heute nicht, dass dies falsch war?

Natürlich lese ich diesen Aufruf heute mit gemischten Gefühlen. Ich kann mich gut daran erinnern, auch an die Gespräche darüber mit Egon Bahr, der kurz darauf gestorben ist. Ihm schwebte damals eine föderale Lösung für das ukrainische Problem vor. Fehleinschätzungen über Russland? Das mag schon sein, sowohl in unserem Kreis als auch bei der Regierung, die ja auf die Gas-Lieferungen aus war. Viele waren ziemlich blind. Ein Faktor war sicher der gewaltige Eindruck der Putin-Rede 2001 im Deutschen Bundestag. Alle sprangen damals auf und waren begeistert – fast alle, Christian Ströbele von den Grünen blieb sitzen, wie er später erzählte. Auch die Verdienste von Willy Brandt um die Wiedervereinigung sind aus meiner Sicht eine historische Tatsache, die von der gegenwärtigen Entwicklung nicht hinweggefegt wird. Viele fragen sich: Was würde Brandt heute dazu sagen? Ich verstehe diese Frage und möchte sie mit Blick auf meinen Lehrer ergänzen: Was würde Horst-Eberhard Richter heute sagen, der ein Kämpfer für die Friedensbewegung war? Aber natürlich hilft die Frage uns nicht wirklich weiter…

Gibt es auch bezüglich der Sicht auf den russischen Angriffskrieg historisch bedingte Unterschiede in Ost- und Westdeutschland?

Ich hatte bei Besuchen vor der Wende nicht den Eindruck, dass die Menschen in der DDR auf eine authentische Weise besonders russlandfreundlich waren. In den 90er Jahren mag sich da etwas geändert haben. Die Rote Armee verschwand – und der Antiamerikanismus wurde ein wichtiges Motiv in den neuen Bundesländern. Das haben wir in den 90ern eindeutig festgestellt, und dazu passte damals auch die Ablehnung des Serbien-Kriegs der Nato in den neuen Bundesländern. In dieser Traditionslinie sehe ich auch das jetzige, eher russlandfreundliche Stimmungsbild in Ostdeutschland. Aber natürlich sind nicht alle Ostdeutschen Putin-Freunde. Und ohnehin müssen wir bei allen Ost-West-Vergleichen mit Blick auf diese Themen über die strukturellen Unterschiede reden, über das Stadt-Land-Gefälle, über Industriebrachen und über die Tatsache, dass seit der Wende ein Viertel der Bevölkerung die vormalige DDR verlassen hat. Besonders massiv sind junge, gut ausgebildete Frauen von Ost- nach Westdeutschland gezogen.

Wie geht’s weiter: Welche Tendenzen behalten Sie besonders im Auge?

Es gibt viele Ängste, es gibt viel Verunsicherung. Bis vor kurzem haben wir uns sehr auf die Corona-Pandemie konzentriert und deren Folgen. Mich interessiert jetzt besonders, welche Ängste der Krieg Russlands bei den Menschen hervorruft. Diese Daten will ich mir genau anschauen, es liegen ja doch schon einige Studien vor. Und natürlich achten wir auf die Verschränkung von Themen. Denken Sie doch noch einmal an die Anti-Corona-Szene. Zunächst ging es eher um die aus dem esoterischen Bereich stammenden Impfgegner, etwa in Baden-Württemberg. Dann gab es einen Zuwachs im Bereich der Verschwörungstheorien, die übrigens jetzt wieder abgenommen haben, seitdem in Europa auf diese Weise Krieg geführt wird, wie das seit 2022 geschieht. Und es gibt immer Verbindungen und Veränderungen. Wir haben schon 2020 das Wort „Brückenideologien“ benutzt. Ein Beispiel dafür ist der im Vorjahr als Problem deutlich größer gewordene Antifeminismus. Bekanntlich ist die Mehrheit der Deutschen eher reserviert, was das Gendern angeht. Die Frage ist nun aber: Gelingt es denjenigen, die daran Interesse haben, viele der eher skeptisch eingestellten Menschen über diese „Brücke“ ins offen rechtsextreme Lager zu locken? Unterm Strich bleibt die Autoritätsgläubigkeit, bleibt der Wunsch nach autoritären Lösungen in Deutschland ein erhebliches Problem. Und nicht nur in Deutschland: Es scheint dies so etwas wie eine Eigenart der Menschen zu sein, mit der wir uns noch lange zu beschäftigen haben.

Zur Person, zur Studie

Elmar Brähler

wurde 1946 in Fulda geboren. Er studierte Mathematik und Physik, bevor er sich der Medizinischen Psychologie zuwandte. Sein Chef war Horst-Eberhard Richter (1923-2011), der als Pionier der psychoanalytischen Familienforschung gilt und vor allem im linken Lager viel beachtete Bücher wie „Der Gotteskomplex“ und „Alle redeten vom Frieden“ schrieb. Von 1994 bis 2013 leitete Brähler die Abteilung für Medizinische Psychologie der Uni Leipzig. Seit 2002 leiten er und der Psychologe Oliver Decker die Arbeitsgruppe, die alle zwei Jahre die „Leipziger Autoritarismus-Studie“ durchführt. Der Politologe Eckhard Jesse sieht das kritisch. Die Leipziger neigten dazu, so monierte Jesse, das Potenzial des Rechtsextremismus zu übertreiben und das des Linksextremismus zu unterschätzen. Heute, 12 Uhr, sprechen Brähler und Decker auf der Leipziger Buchmesse über ihre Erkenntnisse.