Hannover. Druck auf die Politik machen, Netzwerke bilden: „wir pflegen“ will in Kürze einen weiteren Landesableger gründen.

Das Urteil könnte vernichtender kaum sein. „Politik versteht Pflege überhaupt nicht“, sagt Sebastian Fischer am Telefon. Der jüngste Referentenentwurf der Bundesregierung zum Thema Pflege sei ein „Feigenblatt“. „Referentenentwurf“ ist schon so ein Wort, das nur Insider benutzen. In solchen Entwürfen stehen Sachen, die viel Ärger machen können, wenn sie später wirklich in Kraft treten. Oder aber es fehlen die entscheidenden Sachen, die das Problem lösen könnten. Fischer kämpft für die Pflege, genauer für die Menschen, die Angehörige zuhause pflegen. Bald auch mit einem Landesverband in Niedersachsen.

2008 rief Fischer mit rund 50 Betroffenen einen Verein für pflegende Angehörige ins Leben. Knapp 543.000 Menschen in Niedersachsen beziehen Leistungen der Pflegeversicherung. „Rund 80 Prozent davon werden zu Hause von ihren Angehörigen versorgt“, heißt es in einer Mitteilung des Vereins, der neben einer Bundesebene Landesvereine unter anderem im großen Nordrhein-Westfalen hat.

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Nur wenige pflegende Angehörige nähmen dabei die Hilfe eines Pflegedienstes in Anspruch, heißt es weiter. „Die meisten versorgen ihre Ehepartner, (Schwieger-)Eltern, Kinder oder andere nahestehende Personen allein. Das heißt: Waschen, anziehen, begleiten, betreuen, versorgen rund um die Uhr. Jeden Tag. Sie stemmen eine Mammutaufgabe. Viele geraten dabei an ihre Grenzen“, sagt Dr. Gisela Löhberg aus Osnabrück, die ihren Mann viele Jahre zu Hause pflegte. Den Verein treibt besonders um, dass dies kaum anerkannt werde: Obwohl die Mehrheit der Pflegebedürftigen zu Hause von ihren Angehörigen versorgt werde, stehe die Situation in den Pflegeheimen im Fokus der Öffentlichkeit und Politik. Dabei heißt es beispielsweise beim Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege als Prognose für Bayern: „Bis zum Jahr 2050 erhöht sich der Versorgungsbedarf an ambulanter Pflege voraussichtlich um 175.000 auf 524.770 Personen.“ Niedersachsen geht laut einer Landtagsanfrage „ausgehend von den derzeitigen rechtlichen und medizinischen Gegebenheiten sowie der aktuellen Verteilung der Pflegebedürftigkeit auf die verschiedenen Altersgruppen“ für das Jahr 2030 von insgesamt etwa 35 000 zusätzlichen Pflegebedürftigen aus. Das Statistische Bundesamt erwartet 1,8 Millionen mehr Pflegebedürftige bis 2055. Die verschiedenen Zahlen zeigen eines: Das Thema bleibt drängend.

„Pflege ist in vielen Punkten Ländersache“

Der Bundesverein „wir pflegen“ ist etabliert und gut vernetzt. Doch, so Fischer, sei Pflege in vielen Punkte eben Ländersache. Das betreffe etwa die Beratungs-Infrastruktur oder die Zahl von Kurzzeit-Pflegeplätzen. Deshalb soll das Vereinsnetz in die Länder wachsen. Im Juni soll der Ableger in Niedersachsen gegründet werden. In Niedersachsen soll Löhberg mit einem Kern von Mitstreiterinnen und Mitstreitern die Gründung umsetzen. Löhberg ist Landesvertreterin für wir pflegen in Niedersachsen und leitet eine Selbsthilfegruppe für pflegende Angehörige in Osnabrück. Der Verein soll einerseits Einfluss auf die Politik nehmen. Ebenso soll er ein Netzwerk für die Mitglieder bieten, zum Austausch, für Tipps, für Informationen. „In einem Verein können sich Angehörige regional besser vernetzen, in Selbsthilfegruppen austauschen und ihre Anliegen gemeinsam an die Politik tragen,“ sagt eine ihrer Unterstützerinnen. Christina Immig-Pries (57) pflegt ebenfalls ihren Mann, der muskelkrank ist und im Rollstuhl sitzt. Löhbergs Mann hatte eine schwere Hirnblutung erlitten. „Ohne uns würde es die familiäre Pflege nicht geben. Viele von uns verzichten auf eigene Erwerbstätigkeit und damit auf Rentenansprüche und soziale Sicherung“, so Immig-Pries.

Austausch auch über Apps

„Die Flexibilität fehlt“, sagt Fischer zu den aktuellen Unterstützungsmöglichkeiten für pflegende Angehörige. So machten es die engen Vorgaben des Sozialgesetzbuchs (SGB XI) nicht möglich, vom Entlastungsbudget beispielsweise unbürokratisch Nachbarn für regelmäßige Hilfe zu entschädigen. Zu den Forderungen des Vereins zählen unter anderem eine unabhängige, flächendeckende Pflegeberatung, ein flexibles Entlastungsbudget sowie mehr Pflegegeld und Pflegesachleistungen.

Als gutes Beispiel für niedrigschwellige Informationen nennt Fischer die Kölner App „INGE“, einen „digitalen Assistenten für die häusliche Pflegeberatung“ nach Sozialgesetzbuch. Der Verein selbst hat die App „in.kontakt“ für den Erfahrungsaustausch unter pflegenden Angehörigen. Auch lobt Fischer Länder wie Bayern, die einen „Landespflegeplan“ hätten. Für Niedersachsen sieht er aber immerhin eine „sehr gute Basis“. Soll heißen: Auch dort ist pflegerisch schon einiges passiert. Niedersachsen hatte beispielsweise im Januar 2023 ein Förderprogramm zur ambulanten Pflege im ländlichen Raum neu aufgelegt. Profitieren sollen Pflegedienste. „Aktuell kann davon ausgegangen werden, dass Angehörige, die nach einer ambulanten Unterstützung suchen, diese nicht überall stabil oder nicht immer zeitnah realisieren können“, heißt es im Landespflegebericht 2020. Kurz: Es gibt weiter großen Handlungsbedarf.

Ministerium begrüßt Gründung

Im Niedersächsischen Sozialministerium begrüßt man die Pläne. „Ohne die vielen pflegenden Angehörigen wäre die pflegerische Versorgung gar nicht mehr aufrechtzuerhalten“, erklärte Minister Andreas Philippi (SPD) unserer Zeitung. Alle für die Pflege verantwortlichen Ebenen - von den Pflegekassen und Einrichtungsbetreibern über die Kommunen bis hin zu Bund und Ländern - müssten dafür Sorge tragen, dass Pflegende insgesamt mehr Unterstützung erhielten. Niedersachsen nimmt für sich in der Tat in Anspruch, bereits in dieser Richtung zu arbeiten. „Zum Beispiel hat das Land durch eine Neufassung der Anerkennungsverordnung die Voraussetzung geschaffen, dass mehr Angebote zur Unterstützung im Alltag, also Einzelhelferinnen und -helfer, zugelassen werden können - diese ergänzen oftmals den Einsatz pflegender Angehöriger“, heißt es in einer Antwort des Ministeriums auf eine Anfrage unserer Zeitung.

Initiative mit Schleswig-Holstein

Zudem hatte das Land im Rahmen der „Konzertierten Aktion Pflege Niedersachsen“ und der Novelle des Niedersächsischen Pflegegesetzes Verbesserungen für die ambulanten Pflegedienste und eine neue Förderung zur Schaffung von Kurzzeitpflegeplätzen auf den Weg gebracht. „Landesweit 630 ambulante Pflegedienste in Niedersachsen haben auf dieser Basis schon Vereinbarungen abgeschlossen, und zwar mit erheblichen Vergütungssteigerungen von durchschnittlich knapp 20 Prozent“, hieß es im Juni 2022 vom Verband der Ersatzkassen Niedersachsen. Kurzzeitpflegeplätze würden beispielsweise dann benötigt, wenn pflegende Angehörige in den Urlaub fahren wollten oder selbst medizinische und Reha-Behandlungen in Anspruch nähmen, so eine Sprecherin des Ministeriums. Gemeinsam mit Schleswig-Holstein hatte Niedersachsen 2022 außerdem eine Länderinitiative gestartet, um Pflegebedürftige vor noch höheren Kosten schützen. Mit dem Länderantrag wolle Niedersachsen eine bessere Berechenbarkeit und eine Begrenzung der Eigenanteile in der Pflege erreichen, hieß es Ende August 2022.

Gründungsversammlung in Hannover

Zurück zur häuslichen Pflege und der Vereinsgründung: Gesucht werden nun Niedersachsen, die sich „beruflich, ehrenamtlich, privat, wissenschaftlich oder politisch mit Pflege befassen oder befassen möchten“. Für die Mitgliedschaft beträgt der Standardbeitrag 30 Euro. Ein soli-Fonds macht es auch Familien in prekären Situationen möglich, Selbsthilfeangebote zu nutzen. Am 24. Juni soll die Gründungsveranstaltung in Hannover stattfinden.