Hannover. Die Niedersächsin Diana Kisro-Warnecke berät deutsche Firmen, die in China investieren. 2022 war auch für Peking eine „Zeitenwende“, sagt sie.

Dr. Diana Kisro-Warnecke kennt China gut, weiß wie Land und Leute ticken. Ihre Doktorarbeit schrieb sie über das Ansehen deutscher Unternehmen im Reich der Mitte. Das war im Jahr 2009. Seitdem ist der Griff nach der weltweiten Führungsrolle Chinas noch klarer erkennbar. Im Interview bewertet die 49-Jährige die Situation nach dem Ende der Corona-Lockdowns und erklärt, wie sich der Ukraine-Krieg auf die kommunistische Führung ausgewirkt hat.

Hat in China gelebt und ihre Promotion geschrieben: Dr. Diana Kisro-Warnecke
Hat in China gelebt und ihre Promotion geschrieben: Dr. Diana Kisro-Warnecke © Privat | Diana Kisro-Warnecke

Für China gab es im letzten Jahrzehnt, ausgenommen die Corona-Krise, wirtschaftlich immer nur eine Richtung: aufwärts. Zuletzt meldeten die Behörden erstmals seit den 1960er Jahren einen Bevölkerungsrückgang und weniger Wachstum als erwartet. Stehen das Land und seine Regierung jetzt geschwächt dar?

Die schrumpfende Bevölkerungsentwicklung empfinde ich als keinen Rückschritt, sondern als natürliche Entwicklung eines sich vom Entwicklungsland zur Industrienation wandelnden Staates. Die Aufklärung und der wachsende Bildungsgrad in der Bevölkerung sind die Gründe dafür, dass China schrumpft, wenn man es so bezeichnen will. Das sind Entwicklungen, die auch Deutschland erlebt hat und weiter erlebt.

„Chinas Schrumpfen“ wurde in der Öffentlichkeit auch als Ausdruck einer zunehmenden Emanzipation der Frauen gewertet. Die weibliche Bevölkerung, so die These, stellt immer öfter den individuellen Fortschritt über tradierte Rollenmuster. Geht Ihre Analyse auch dahin?

Ich bin fest davon überzeugt, dass sich die Chinesinnen sehr stark weiter emanzipieren. Ich möchte das aber nicht mit dem Schrumpfen der Bevölkerung gleichsetzen, sondern sehe das eher als parallele Entwicklung. Man muss aber sagen, dass China in den letzten Jahrzehnten ganz andere finanzielle Mittel in die Bildung der Menschen investiert hat als andere Schwellen- und Entwicklungsländer, weil der Führung in Peking bewusst war, was diese für Wachstum und Wohlstand bedeutet. Der leider jüngst verstorbene ehemalige VW-Chef Hahn sagte mir des Öfteren in Gesprächen, dass mit Blick auf die Bildung China Deutschland längst überholt hat und gemessen am Niveau den Vorsprung von einer Generation besitzt.

Und die schlechteren Wirtschaftszahlen. Ist das noch die Folge des harten Corona-Regimes, das Präsident Xi bis vor kurzem angeordnet hatte?

Unter anderem. Die Regierung hat die Folgen unterschätzt, und die Angst vor der Pandemie ist weiter vorhanden, weil China bei aller wirtschaftlichen Macht, eine weiter bestehende medizinische Unterversorgung für die Bevölkerung, deren Lebensstandard noch nicht so hoch ist, bekämpfen muss.

Gibt es weitere Gründe für den Rückschritt?

Den Chinesen ist klar geworden, wie vernetzt die Welt ist, und dass Sanktionen großen Einfluss haben können. China hat noch vor Kriegsbeginn in der Ukraine die „immerwährende Freundschaft“ zu Russland bekräftigt. Jetzt merkt China bei Investitionen eine deutliche Zurückhaltung. Man steht als Partner auf dem Prüfstand vieler Nationen.

Es wirkt also die Mahnung, auch der deutschen Politik, sich nicht wieder zu abhängig von einem Staat zu machen. Verstehe ich Sie da richtig?

Genau. Das ist schon durchgeschlagen. Der ein oder andere Batteriezellen-Produzent wird den Aufbau einer Fabrik von China nach Europa verlagern. Ich kenne Firmen für Medizinprodukte, die Ähnliches planen. Zur Wahrheit gehört aber auch: China steuert das weiterhin. Die Aussagen von Präsident Xi Jinping auf dem Volkskongress zu Sicherheitsfragen spielen hier eine gewichtige Rolle.

In welche Richtung gingen diese?

Er hat klar gemacht, dass es ausländischen Firmen in Fragen der Sicherheitstechnik erschwert werden wird, Fuß in China zu fassen beziehungsweise überhaupt die Erlaubnis für eine Produktionsstättenerrichtung zu bekommen. Das merke ich in meiner beratenden Tätigkeit für deutsche Firmen schon bei den Prozessen im Vorfeld. Beispielsweise bei der Homologation, also beim Zertifizierungsprozess neuer Modelle und Produkte für den chinesischen Markt. Bei der Erlaubnis, neue Produkte in den Markt einzuführen, wird heute noch genauer als vorher hingeschaut.

Sie haben in Braunschweig bei Ihrem Vortrag bei der Kaufmännischen Union gesagt, China hat einen Plan für alles. Damals skizzierten sie Chinas Fernziel für 2049. In diesem Jahr soll der Führungsanspruch in der Welt nicht nur wirtschaftlich besiegelt sein. Dann kam die Kehrtwende in der Corona-Politik, auch Proteste. Schwankt Chinas Plan, wenn die Bevölkerung nicht mitspielt?

Es ist umfangreicher. Ich bin der Überzeugung, dass auch diese angebliche 180-Grad-Kehrtwende ein gesteuerter Prozess war, sie kam nicht zufällig, sondern war zu dem Zeitpunkt möglich, als Xi seine Macht auf dem Volkskongress manifestiert und sogar noch ausgebaut hatte.

Verstehe ich Sie richtig: Auch hier folgt alles einem Plan?

Ja. Und zugleich gibt es eine historisch-philosophische Position dazu. Die Mitglieder der Regierung werden traditionell als „Söhne des Himmels“ bezeichnet, die dann berechtigt sind zu regieren und zu herrschen, wenn das von der Bevölkerung auch goutiert wird. Das spielt auch eine Rolle bei den gelockerten Pandemieregeln, ebenso wie die Angst vor wirtschaftlichen Verwerfungen, wenn die heimische Wirtschaft weiter lahmt. Um dies zu verhindern, werden natürlich Menschen benötigt, die arbeiten und das Land vorantreiben.

Wie gestaltet sich aus Ihrer Sicht die wirtschaftliche Lage aktuell?

Man konzentriert sich auf den Binnenmarkt, auf das Landesinnere. Die Führung in China merkt eben deutlich, dass der Ukraine-Krieg bei einstigen wirtschaftlichen Partnern etwas verändert hat. China will sich aber ungern von anderen abhängig machen.

Sie beraten auch deutsche Firmen. Wie sollten diese sich verhalten? Was raten Sie ihnen?

Es ist so, dass große Wirtschaftszweige in Teilen in einem sehr ungesunden Abhängigkeitsverhältnis zu China standen. Das müssen wir zurückdrehen, die Sensibilisierung dafür ist aber da. Ein großer Entwicklungsschub gelingt Deutschland aus meiner Sicht aber nur dann, wenn wir die Digitalisierung voranbringen. Das hat China in den letzten zehn Jahren fein orchestriert hinbekommen. Mit Hilfe von Elementen der Planwirtschaft konnten Unternehmen zusammengelegt werden. Damit hatte das Land nicht nur einen Umsetzungsvorteil, sondern auch teilweise einen maximalen Wissensvorsprung gegenüber anderen Staaten erreicht.

Aber wir leben ja eben nicht in einer Diktatur, die „Fortschritt“ von oben anordnen kann…

Ja, aber am Beispiel des LNG-Terminals in Wilhelmshaven sehen wir doch, dass wir es auch können, wenn wir nur wollen. Beschleunigte Prozesse der Inbetriebnahme helfen uns nicht nur bei der Energieversorgung, sondern würden uns auf dem Feld der Digitalisierung einen großen Schritt voranbringen. Dazu gehört jedoch auch, sich die richtigen Partner zu suchen.

Die da wären?

Wir können noch autarker werden in Europa. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Schweden soll Nato-Mitglied werden. Im Zusammenhang mit der Diskussion über den Beitritt sollte allen klar sein, dass Schweden europäischer Vorreiter ist, wenn es um Digitalisierung geht. Das Land wird traditionell als digitaler Testmarkt für Konzerne unterschiedlicher Branchen genutzt. Das zeigt das „Roll-Out“-Verfahren bei den 5G-Mobilfunknetzen oder bei intelligenten Messsystemen wie dem sogenannten „Smart Meter“. Hier müssen sich Wirtschaft und Politik stärker austauschen. Ein höherer Grad an Digitalisierung hat nicht nur in Friedenszeiten einen Mehrwert für die Bevölkerung, sondern spielt natürlich in Fragen der Sicherheit und beim Schutz des Landes in Zeiten, in denen ein Krieg in Europa tobt, eine eklatante Rolle.

Wie offen ist die deutsche Gesellschaft überhaupt für Digitalisierung?

Ich mache die Offenheit nicht von einem Geburtsjahrgang abhängig. Ich wünschte mir aber, dass wir im technologischen Fortschritt öfter die Chancen sehen und nicht immer Angst haben, einen erreichten Standard dadurch aufgeben zu müssen. Hier haben wir in Deutschland echten Nachholbedarf. Wir sollten versuchen, mehr Pilotprojekte an den Start zu bringen, brauchen mehr Pragmatismus. Diesen Unternehmergeist haben aber auch die Chinesen, da leuchten die Augen, wenn es um neue Technologien geht. Dieses Leuchten wünschte ich mir öfter in Deutschland.

Welche Rolle spielt die überbordende Bürokratie? Der preußische Beamtenapparat galt unter Bismarck als Qualitätsmerkmal. Hemmt dieses über mehr als ein Jahrhundert weitergegebene tradierte Denken die Innovationsfähigkeit heute?

Leider ist das so. Wir müssen da gar nicht die Chinesen heranziehen. Wenn es um den Bürokratieabbau geht, machen uns andere Länder in Europa vor, was schlankere Strukturen für die Innovationsfähigkeit bedeuten. Es ist kein Zufall, dass die nordeuropäischen Länder bei der Bildung im europäischen Vergleich spitze sind. Vielleicht ist es die Wertschätzung für die erzieherischen Berufe, es ist mit Sicherheit aber auch die Ausrüstung in den Klassen, wo Tablets und das digitale Lernen zum Alltag gehören.

Zurück zur Frage, was das alles für unser Verhältnis zu China bedeutet. Glauben Sie, dass sich Xi bewegen wird, wenn es um das eigene Verhältnis zu Russland geht. Ist China nach diesem Jahr 2022 weniger unabhängig, als es bis dahin dachte?

Der Ukraine-Krieg ist ein echter Gamechanger, nicht nur für Russland, sondern auch für China. Es geht um den Plan der kommunistischen Führung, bis 2049 der Spiel- und Taktgeber in der Welt zu sein, wie ein Schachspieler, der geschützt ist und zugleich jeden Zug des Gegners kontern kann. Aufbauend auf seiner wirtschaftlichen Dominanz wollte Peking seine militärische Schlagkraft erhöhen. Jetzt haben sich die Spielregeln verändert. Xi hat gemerkt, wie eine vernetzte Welt ungünstigen Einfluss auf das eigene Vorankommen haben kann, wenn nicht China selbst die Fäden in der Hand hält. Ich glaube, dass China weiterhin den Plan verfolgt, den USA eines Tages den Rang als Führungsnation in der Welt streitig zu machen. Der Weg dahin ist aber deutlich schwieriger geworden.

Zur Person

Dr. Diana Kisro-Warnecke (1973), geboren in Großburgwedel, ist Geschäftsführerin und Inhaberin des Beratungsunternehmens Dr. K&K ChinaConsulting. Sie ist die frühere Bundesvorsitzende der Vereinigung für Frauen im Management e. V.

Heute arbeitet sie für den japanischen IT-Dienstleistungskonzern NTT Data.