Was ist mit dem Elend des Krieges? Und was mit den Panzern aus Deutschland? Ein Kommentar anlässlich des Amtsantritts von Boris Pistorius.

Der Satz geht einem durch Mark und Bein. So zärtlich und flehentlich klingt er, trotz oder wegen des Horrors, der darin steckt. „Mein Schatz, wir sind voller Blut, bitte hol’ uns hier raus.“ Diesen Satz habe die Mutter ihr soeben aus der unzugänglichen Ruine per Telefon zugerufen, berichtet eine junge Frau dem „Welt“-Reporter. Die Frau steht vor einem zerborstenen Hochhaus und ringt um Fassung.

Vor ein paar Tagen hat das kurze Interview stattgefunden. In Dnipro, der viertgrößten Stadt der Ukraine, 400 Kilometer südöstlich von Kiew – ­ und übrigens nur 2000 Kilometer von Braunschweig entfernt. Ein russischer Marschflugkörper hat das neunstöckige Haus getroffen. Wobei „getroffen“ eigentlich untertrieben ist. Stellenweise zerfetzt wurde es. Einen 1000-Kilogramm-Gefechtskopf hat so ein Geschoss, gefüllt mit Hexogen zur Erhöhung der Sprengkraft. 45 Menschen wurden tot geborgen, 20 weitere werden noch vermisst, ohne Hoffnung, sie noch lebend zu finden. Von den verzweifelten Schreien der Eingeschlossenen berichten die Augenzeugen, von einem Leichnam, der auf gruseligste Weise an der Hauswand hing, und eben auch von dem Flehen der verzweifelten Mutter in der Ruine: „Mein Schatz, wir sind voller Blut, bitte hol’ uns hier raus.“

Beinahe etwas trotzig habe ich den Satz nun gleich zweimal zitiert. Sie dürften ihn nämlich noch gar nicht mitbekommen haben. Geradezu lächerlich geringe Klickzahlen hat der entsprechende Beitrag im Internet. „Wiederholungen sind langweilig“, schreibt der Journalist Matthias Koch anlässlich der Schandtat von Dnipro über unsere Abstumpfung und ärgert sich in seinem Kommentar darüber, dass vor lauter Lützerath-Aufregung auch die „Tagesschau“ die verbrecherische russische Attacke so gut wie ignoriert hat.

Apropos ärgern: Ich weiß schon, dass die Reklamation von Anteilnahme eine heikle Sache ist. Einigen Leserinnen und Lesern mag dies sogar auf die Nerven gehen. Nein, ich meine nicht nur die verstockten Putinversteher, die ja auch bestimmt jemanden kennen, der bestimmt irgendwo gelesen hat, das Haus sei in Wahrheit vom ukrainischen Geheimdienst gesprengt worden. Ich meine auch nicht nur die selbst ernannten „Realisten“, die sich noch immer nicht dazu durchringen konnten, die Schablonen des Kalten Krieges und das Geschwurbel von „legitimen Einflusszonen“ zu vergessen und diesen Krieg endlich als das zu begreifen, was er ist: als in jeder Hinsicht unterstützenswerten Abwehrkampf der Ukrainer im Namen der Freiheit, als gewaltige, bestechend erfolgreiche Anstrengung, die auf keinen Fall vergeblich sein darf.

Doch selbst wer das so sieht, ist vor Abstumpfung nicht gefeit. Empörung ist eine endliche Ressource. Es wiederholt sich ja wirklich! Und es gibt wahrlich auch andere Probleme, oder? Ach, und was können wir denn schon machen? Leider ist der russische Wahnsinnskrieg nicht weniger schrecklich, nur weil wir uns daran gewöhnt haben, im Schatten der von ihm erzeugten Nachrichten normal weiterzuleben – wogegen natürlich sowieso nichts zu sagen ist. Routine ist notwendig, Routine ist vernünftig. Nur stimmt es eben nicht, dass wir nichts machen können. Und schon wären wir bei Boris Pistorius.

Högl? Heil? Falsch geraten!

Das war wirklich spannend am Montagabend in der Redaktion. Die Namen gleich mehrerer Niedersachsen wurden für die Nachfolge der wirklich arg unglücklichen Verteidigungsministerin Lambrecht gehandelt. Würde unsere gedruckte Ausgabe am nächsten Morgen womöglich alt aussehen? Würde über Nacht womöglich durchgesickert sein, dass der Kanzler nun doch Eva Högl, Hubertus Heil oder Lars Klingbeil den heikelsten Job zugedacht hat, den er zu vergeben hat? Bekanntlich kam es anders – erst recht niedersächsisch, doch völlig überraschend. Plötzlich interessierte sich die halbe Welt für unseren Landesinnenminister! Und während die einen Beobachter munter verdutzt feststellten, der Mann sehe auf vielen Fotos ja aus wie Armin Laschet (ich meine ja, wenn schon von Ähnlichkeit die Rede sein soll: eher wie Kevin Spacey) und die anderen eilig recherchierten, ob er denn „gedient“ hat (ja, hat er vor gut 40 Jahren), habe ich mich gefragt, ob ich die Kür des Osnabrückers für eine kluge Entscheidung halte. Die Antwort: ja, aber…

Boris Pistorius ist eine gute Wahl. Ja, ich kann es mir wirklich vorstellen, dass seine direkte, positiv-hemdsärmelige Art der kriselnden Armee gut tut. Ja, ich habe gern zur Kenntnis genommen, dass sein einstiger Ziehvater Gerhard Glogowski den juristischen Scharfblick und die mutige Reformbereitschaft des neuen Bundesministers hervorgehoben hat. Und ja, ich nehme Pistorius auch ab, dass er seine eigene, für Niedersachsens SPD einst typische Milde in der Beurteilung des Putin-Regimes längst verworfen hat.

Die Verbündeten machen Druck

All dies sind günstige Vorzeichen. Aber die Bewährungsproben werden gewaltig sein. „Zeitenwende“ ist erstmal auch nur ein Wort. Der Jahrzehnte währende Niedergang des so furchtbar verästelten Gebildes namens Bundeswehr lässt sich nicht mal eben stoppen. „Heerjemine“, witzelt der „Spiegel“ bei der an sich so traurigen Beschreibung der Probleme. Und dann erst der außenpolitische Druck: Die Scholz’sche Ukraine-Linie, immer nur so „entschlossen“ zu helfen, dass es noch „behutsam“ wirkt (aber auch nicht so „behutsam“, dass man es nicht auch „entschlossen“ nennen könnte), scheint nicht länger vertretbar. Die Verbündeten werden ungeduldig. Die Panzerfrage lässt sich nicht aussitzen. Der Eiertanz ist ausgetanzt. „Sie können gerne noch sechs Monate lang so reden, aber hier sterben Leute“, sagt der ukrainische Präsident uns Deutschen. Man muss nicht nochmal den flehentlichen Satz der Mutter aus dem Hochhaus in Dnipro zitieren, während man zugibt, dass der Hinweis bitter berechtigt ist.

Natürlich gehört es zur Redlichkeit, bei der Behandlung „kremlastrologischer“ Fragen nicht so zu tun, als wüsste man genau, wie alles kommt. Am plausibelsten erscheinen mir jedoch die folgenden Annahmen: Der Krieg wird desto eher beendet, je klarer sich in Moskau die Erkenntnis durchsetzt, dass er auf keinen Fall wie geplant zu gewinnen ist. Zudem wird der Widerstand in Russland desto eher aufkeimen, je deutlicher es wird, wie viele russische Soldaten in diesem Krieg „verheizt“ werden, wie man das so grässlich nennt. Die Kampfkraft der ukrainischen Armee spielt bei diesen Je-desto-Perspektiven die alles entscheidende Rolle. Es ist unsere Aufgabe, mehr zur Stärkung dieser Kampfkraft beizutragen. Wann, wenn nicht jetzt? Für den frischen, sozusagen unbelasteten Bundesverteidigungsminister ergibt sich daraus eine Agenda, wie sie anspruchsvoller, aber auch dringlicher nicht sein könnte. Überzeugen. Organisieren. Vorangehen. Liefern!