Hannover. Niedersachsens Behörden profitieren von geknackten Chats. Geldautomaten machen Sorgen.

Als die Ermittler am 6. Mai 2021 in der niedersächsischen Gemeinde Sachsenhagen eine Tennishalle betraten, waren sie trotz konkreter Hinweise auf das, was sie finden würden, wohl doch beeindruckt. Der „Ermittlungskomplex Tennis“ hatte eine „hochprofessionelle Indoor-Plantage mit mit 4100 Marihuana-Pflanzen unterschiedlicher Wuchshöhe“ auffliegen lassen. Pro Erntezyklus hätte das Projekt rund 1,7 Millionen Euro abgeworfen. In der Halle wurden vier Bulgaren angetroffen, die dort „regelrecht hausten“, so Niedersachsens Landespolizeidirektor Ralf Leopold. Hinweise kamen von Europol, die Basis legte das Überwachen eines Krypto-Messengerdienstes durch das FBI.

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Der Tennishallen-Coup, den Innen- und Justizministerium beim gemeinsamen „Lagebild“ zur Organisierten Kriminalität (OK) präsentierten, hat schon etliche Merkmale dessen, was Innenminister Boris Pistorius (SPD) zur thematischen Einführung zu sagen hatte. „Die Organisierte Kriminalität stellt sich zunehmend professioneller und digitaler auf - bei einem gleichzeitig hohen Maß an Skrupellosigkeit“, betonte Pistorius. Die Täter gingen arbeitsteilig und grenzüberschreitend vor, agierten konspirativ und gewaltbereit. So oder so ähnlich klang es auch schon bei „Lagebildern“ der Vorjahre. Die Bandbreite der Taten reicht von ausgefeilten Cyber-Attacken mit „Ransomware“ – also der Freigabe gekaperter Daten gegen Lösegeld – über den aus Callcentern im Ausland gesteuerten „Enkeltrick“ bis zur illegalen Großplantage.

Geldautomaten-Sprengungen machen Sorge

Organisierte Kriminalität in Niedersachsen
Organisierte Kriminalität in Niedersachsen © Jürgen Runo | Jürgen Runo

Aktuell stellten Pistorius und Justizministerin Kathrin Wahlmann (SPD) angesichts von bereits mehr als 60 Geldautomaten-Sprengungen 2022 dieses Thema besonders heraus. Dabei zählt das Sprengen von Geldautomaten laut Innenministerium nicht per se zur Organisierten Kriminalität. „Wir befinden uns noch unterhalb der Schwelle der organisierten Kriminalität“, so eine Sprecherin des Ministeriums. Pistorius treibt aber seit längerem gewaltig um, dass etwa in den Niederlanden diese Taten durch technische Vorkehrungen der Banken kaum noch stattfänden, in Deutschland aber bisher viel zu wenig passiere. „Geld, das sich verfärbt oder verklebt, klaut keiner mehr“, so der Minister. Notfalls will Niedersachsen über eine Bundesratsinitiative Druck machen. „Wir haben derzeit einen absoluten Höchststand an Geldautomaten-Sprengungen“, sagte Wahlmann. Gehe es um Automaten in Wohn- und Geschäftshäusern, hätten auch schon Familien mit Kindern von der Feuerwehr aus brennenden Häusern gerettet werden müssen. Bei der Staatsanwaltschaft Osnabrück wurde daher zum 1. Dezember eine eigene Zentralstelle eingerichtet. „Aus Sicht der Justiz ist diese Spezialisierung ein ganz wichtiger Schritt“, so Wahlmann. Der CDU-Landtagsabgeordnete Andre Bock erklärte dazu: „Die Justizministerin hat recht, wenn sie sagt, dass nur so die Strukturen und Hintergründe vollumfänglich aufgedeckt werden können. Gleiches gilt für mich im Bereich der Clankriminalität. Auch hier wurden zu diesem Zweck vier Schwerpunktstaatsanwaltschaften 2020 eingerichtet, deren Auflösung ein schwerer Fehler wäre.“ Dies dürfte Richtung Grüne zielen, die nun wieder mit der SPD regieren, wie schon von 2013 bis 2017.

Schwerpunkt Rauschgiftkriminalität

Dass die Zahl der niedersächsischen OK-Ermittlungsverfahren von 58 auf 78 stieg, hängt wesentlich an Ermittler-Erfolgen im Ausland beim Knacken von verschlüsselter Kommunikation. „Die Erkenntnisse aus entschlüsselten kryptierten Endgeräten haben zu zahlreichen neuen Verfahren im Bereich der Rauschgiftkriminalität geführt“, sagte Wahlmann. So seien allein in den EncroChat-Verfahren rund 1,4 Tonnen Cannabisprodukte, 36,5 Kilogramm Kokain und über 56,5 Kilogramm synthetische Drogen sichergestellt worden. Das sei eine bis dahin ungeahnte Größenordnung. Pistorius, der seit langem auf ein Stärken der europäischen und internationalen Zusammenarbeit bei Ermittlungen drängt, betonte am Donnerstag zwar die Bedeutung von „Europol“. Die Behörde könne unter anderem große Datenmengen auswerten. Auch Hinweise des FBI seien seit jeher wichtig. Zur Hälfte verdanke man die Erfolge aber eigenen Erkenntnissen. Um die Materialflut aus den geknackten Krypto-Chats bewältigen zu können, war auch Personal aufgestockt worden.

GdP: Täter immer professioneller

Die Gewerkschaft der Polizei erklärte: „Das aktuelle Lagebild Organisierte Kriminalität zeigt, dass die Professionalität der Täter in allen Deliktsbereichen weiter zunimmt.“ GdP-Expertin Janine Mai betonte weiter: „Gerade bei international tätigen Gruppen ist die Verfolgung der Täter aufwendig, die Verfahren sind oft langwierig.“ Es sei unabdingbar, dass die internationale Zusammenarbeit der Behörden verbessert und vereinfacht werde. Nach Einschätzung der CDU-Landtagsfraktion hat Niedersachsen „ein massives Problem mit der Organisierten Kriminalität“: Es seien französische und niederländische Behörden gewesen, die in die OK-Kommunikation eingedrungen seien. „Daher ist für die CDU-Fraktion unverständlich, warum die rot-grüne Landesregierung Ermittlungsinstrumente wie die Quellen-TKÜ (Telekommunikationsüberwachung, die Red.) oder die Online-Durchsuchung immer noch verteufelt“, erklärte Bock. „Bei einer Schadenssumme von ca. 167 Millionen Euro wurden nur rund vier Millionen Euro abgeschöpft. Das ist deutlich zu wenig“, so CDU-Mann Bock weiter. Und damit noch einmal zurück zum „Ermittlungskomplex Tennis“: Da gab es im April 2022 teilweise hohe Haftstrafen von bis zu acht Jahren und zwei Monaten. Ein Teil der Strafen ist bereits rechtskräftig. Und: Es gebe einen feststellbaren Trend zu höheren Strafen, heißt es im Lagebild weiter. Durchschnittswert: 3,99 Jahre.