Peine. Der Umweltwissenschaftler und Ex-Politiker liest der Politik und der Bevölkerung die Leviten. Seiner SPD wirft er „schwere moralische Fehler“ vor.

Von Altersmilde war bei Ernst Ulrich von Weizsäcker keine Spur. Im Forum in Peine stellte der Umweltwissenschaftler, Aktivist und Ex-Politiker auf Einladung des Kirchenkreises sein neues Buch vor. Vor seinem Vortrag trafen wir den Veteran der Umweltbewegung zum Gespräch. Dabei wetterte der 84-Jährige leidenschaftlich gegen die von ihm konstatierte umweltpolitische Kurzsichtigkeit der deutschen Politik der vergangenen Jahre.

Die gegenwärtige Energiekrise sieht Weizsäcker vor allem als Ergebnis einer „in Deutschland sehr verbreiteten Billig-Mentalität“. Insbesondere seine eigene Partei SPD, für die er während der Kanzlerschaft Gerhard Schröders im Bundestag saß, kritisiert er scharf für die herbeigeführte Abhängigkeit von billigem russischen Erdgas. „Wir haben uns hier jahrelang hinter Willy Brandts Ostpolitik versteckt“, so Weizsäcker. „Dabei diente das Stichwort Frieden als Deckmantel für die Billig- und Wegwerfgesellschaft. Das war nicht nur politisch und wirtschaftlich, sondern auch moralisch ein schwerer Fehler.“

Sonnenstrom kostet heute nur noch ein Zehntel

Die vermeintliche „Billig-Doktrin“ herrscht nach Weizsäckers Überzeugung nicht nur in weiten Teilen der Politik, sondern auch im Volk. „Das klimapolitisch Notwendige wird mehrheitlich nach wie vor abgelehnt“, lautet seine düstere Einschätzung. „Deshalb muss die Politik Wege finden, die fortschrittlich sind, die aber der allgemeinen Gemütlichkeit nicht diametral entgegenstehen.“ Ein positives Beispiel hierfür sieht er etwa im 9-Euro-Ticket. Dieses habe den klimapolitisch wichtigen öffentlichen Nahverkehr endlich ins Licht von Politik und Öffentlichkeit gerückt. „Und gleichzeitig hat die Aktion die Politik sehr gut aussehen lassen. Das ist doch ermutigend.“ Im Übrigen, betont er, sei Klimaschutz bezahlbar. Das zeige etwa ein Blick auf die langfristige Preisentwicklung beim Strom aus Sonne. Habe die Erzeugung einer Kilowattstunde Ende der 90er Jahre noch rund zwei Mark gekostet, liege dieser Wert mittlerweile bei fünf Cent.

Flächenverbrauch durch Erneuerbare „nicht so beunruhigend“

Unten Landwirtschaft, oben Strom: Ernst Ulrich von Weizsäcker glaubt, dass sich der Flächenverbrauch der erneuerbaren Energieerzeugung im Rahmen halten lässt, etwa durch sogenanntes Agri-Farming, wie in diesem Obstbaubetrieb in der Bodenseeregion.
Unten Landwirtschaft, oben Strom: Ernst Ulrich von Weizsäcker glaubt, dass sich der Flächenverbrauch der erneuerbaren Energieerzeugung im Rahmen halten lässt, etwa durch sogenanntes Agri-Farming, wie in diesem Obstbaubetrieb in der Bodenseeregion. © picture alliance/dpa | Felix Kästle

Überhaupt scheint Weizsäcker wichtig, bei aller Empörung doch auch Optimismus zu verbreiten. Für den Übergang in ein Zeitalter der Nachhaltigkeit propagiert er technische Lösungen. Er ist erklärter Fan der Stahlerzeugung mittels grünen Wasserstoffs – wie im Salcos-Projekt der Salzgitter AG. Er glaubt an eine klimaneutrale Zukunft des Verbrenners, wenn es gelinge, in großem Maßstab Methanol herzustellen – aus „grünem“ Wasserstoff und Kohlendioxid. Und er bezweifelt auch nicht, dass es gelingen kann, den enorm steigenden Strombedarf zukünftig problemlos durch Erneuerbare zu decken, ohne dass die letzten freien Flächen für Solarmodule oder Windräder herhalten. „Wenn wir bei der Photovoltaik konsequent auf Doppelnutzung von Flächen setzen, etwa von Dächern oder landwirtschaftlichen Arealen, ist der Flächenverbrauch gar nicht so beunruhigend.“ Bei der sogenannten Agri-Photovoltaik, bei der Plantagen oder Äcker gleichzeitig zur Stromgewinnung genutzt würden, gebe es bereits sehr erfolgreiche Modellprojekte.

Kein Anhänger einer Deindustrialisierung Deutschlands

Im Übrigen, so Weizsäcker, seien technische Lösungen alternativlos, wenn man keine Deindustrialisierung Deutschlands wünsche. Radikale Szenarien, wie sie etwa der Postwachstumsökonom Niko Paech propagiere, seien zwar „interessant“, dienten letztlich aber vor allem seiner eigenen Argumentation, weil er selbst „dagegen ganz moderat“ aussehe, so Weizsäcker augenzwinkernd – „nach dem Motto: Läuft’s nicht auf meine Weise, dann gibt’s zur Strafe den Paech“.

Der Wert der „Schöpfung“ im Anthropozän

Weizsäckers Peiner Vortrag trägt den Titel „Wir dürfen Gottes Schöpfung nicht ruinieren“ – ein Wunsch der kirchlichen Veranstalter, wie er verrät, aber einer, dem er sich gern angeschlossen habe. Auch wenn die „Bewahrung der Schöpfung“ nach wie vor oft von Politikern – insbesondere christlicher Parteien – im Munde geführt wird, was sagt er uns heute noch in einer Welt des „Anthropozäns“, in der längst die Menschheit das Ruder über unseren Planeten übernommen hat und über dessen Wohl und Weh entscheidet? „Wer sich halbwegs in der Geschichte auskennt und ein bisschen Demut aufbringt, der sollte in der Lage sein, nicht ausschließlich anthropozentrisch zu denken“, findet Weizsäcker.

Für ihn hat die Rede von „Gottes Schöpfung“ nicht an Aktualität eingebüßt: „Das Wort von der Bewahrung der Schöpfung ist eines, das man verstehen kann als Generationen- und Zukunftsgerechtigkeit“, erklärt er. Allerdings liefere längst nicht nur das Christentum, sondern auch andere Religionen, etwa der Hinduismus, ganz ähnliche Vorstellungen und Interpretationen. „Es soll uns gut gehen, aber bitte in einer Form, bei der wir nicht die Augen vor den Folgen verschließen.“ Hierin liege sogar die Verpflichtung des Menschen. „Wenn wir als Homo Sapiens uns zugute halten, Elefant und Känguru so viel voraus zu haben, dann können wir auch von uns verlangen, dass moralische Kategorien akzeptiert werden.“

Prof. Ernst Ulrich von Weizsäcker.
Prof. Ernst Ulrich von Weizsäcker. © Andreas Eberhard

Zur Person

Ernst Ulrich von Weizsäcker, geboren 1939, ist einer der Vordenker der Deutschen Umweltbewegung. Der Physiker, Biologe und Umweltwissenschaftler ist ein Sohn des Physikers Carl Friedrich von Weizsäcker und ein Neffe des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker.

Seine akademische Karriere führte ihn auf eine Biologie-Professur der Universität Duisburg-Essen, auf den Präsidentenstuhl der Uni Kassel sowie an die Spitze der Denkfabrik Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie.

Weizsäcker saß von 1998 bis 2005 für die SPD im Deutschen Bundestag, wo er über mehrere Jahre dem Umweltausschuss vorsaß und das Erneuerbare-Energie-Gesetz (EEG) mit vorantrieb. 2012 bis 2018 war er Ko-Präsident des Club of Rome. Er ist Autor zahlreicher Bücher zu Klima, Nachhaltigkeits- und Umweltthemen.

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